Bösartigen Zellen auf der Spur
Als erstes deutsches Unternehmen hat die Hamburger Softwarefirma Mindpeak eine Zulassung für eine KI-basierte In-vitro-Diagnostik von Tumorzellen bekommen. Dafür ist das Start-up ungewöhnliche Wege gegangen.
Von Melanie Croyé
Felix Faber ist kein Mediziner, mit Gesundheitswirtschaft hatte er ebenfalls nicht viel am Hut. Dafür ist er humanoider Fußballweltmeister und entwickelte im Studium intelligente Roboter mit, die dann den RoboCup gewannen. Nachdem der Informatiker sein erstes Unternehmen für Onlinespiele verkauft hatte, suchte er nach einem neuen Projekt: mit dem er einen Mehrwert schaffen, ein Problem lösen und Menschen helfen kann. Und das führte ihn dann doch in die Medizin. Knapp ein Jahr lang besuchten Faber und sein Kollege Tobias Lang Krankenhäuser und Ärzte und absolvierten sogar ein Praktikum in einem Labor in Hamburg. Sie wollten einen Bereich finden, in dem sie mit ihrer Expertise im Bereich künstliche Intelligenz (KI) und Robotik etwas Sinnvolles erschaffen könnten.
In der Pathologie wurden sie fündig. „Wir haben dort einen sich verschärfenden Engpass erkannt: Weltweit steigt die Zahl der Krebsfälle von Jahr zu Jahr rapide an, aber gleichzeitig stagniert die Zahl der Pathologen, die die Diagnose erstellen müssen“, sagt Faber. Zudem arbeitet man bei der Krebszellenerkennung noch immer hauptsächlich manuell: Bis heute untersuchen Ärzte Gewebeproben zum allergrößten Teil unter dem Mikroskop. Wenn sie verdächtige Stellen finden, müssen sie mitunter Tausende Zellen einzeln auszählen, um die Art des Tumors und die Therapie bestimmen zu können. „Das ist eine enorme Leistung, die Pathologen hier vollbringen“, so Faber. Mediziner trainieren oft jahrelang und werten dabei Hunderte Bilder aus, um schließlich ihre Diagnosen stellen zu können. „Bisher war die KI nicht gut genug, um da einen Mehrwert zu schaffen“, sagt Faber.
Also gründeten Faber und Lang ihr Softwareunternehmen Mindpeak und entwickelten eine Deep-Learning-KI, die Pathologen bei ihrer Arbeit zumindest unterstützen soll. Voraussetzung ist, dass die Gewebeschnitte digitalisiert werden, was aber zunehmend passiert. Die Software sucht dann nach bestimmten Mustern in den Bildern und kann so Tumorzellen von Nicht-Tumorzellen unterscheiden. Die entsprechenden Abschnitte werden markiert, was den Ärzten bereit einen großen Teil der Arbeit abnimmt. Zudem kann die Software oft schneller als ein Mensch einzelne Zellen auszählen, um Tumore zu kategorisieren – was wiederum eine wichtige Information für den Onkologen ist, wenn es darum geht, eine entsprechende Diagnose zu stellen und Therapie zu wählen.
„Bildauswertung durch KI-Systeme in der Pathologie wird bald besser funktionieren als durch Ärzte“, sagt Professor Alexander Waibel, Informatiker und Machine-Learning-Experte am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und der Carnegie Mellon Universität in Pittsburgh. Für ihn ist dieser Bereich ein gutes Beispiel, wie Mensch und Maschine zukünftig symbiotisch zusammenarbeiten können. Gerade im Medizinbereich seien soziale Aspekte nicht zu vernachlässigen, überlebenswichtige Diagnosen wie eine Krebserkrankung sollte deshalb immer eine Ärztin oder ein Arzt stellen. Wo die Maschine allerdings deutlich überlegen ist, ist ihre Lernfähigkeit. Sie kann in kurzer Zeit von wesentlich mehr Daten Erfahrungen und Entscheidungen lernen als ein Mensch das je in seinem Leben könnte – „und das womöglich über Ländergrenzen hinweg“, sagt Waibel. Addiert man dazu dann noch die zunehmende Leistungsfähigkeit, die moderne Computer aufbringen, dann könne man ähnliche Strukturen trainieren wie im menschlichen Gehirn. „Gerade für Perzeption und Mustererkennung sind KI-Systeme hervorragend geeignet. Wenn wir eine Entscheidung für eine Diagnose fällen müssen, baut das auf vielen kleinen Entscheidungen und Auswertungen auf, die ein gelerntes System meiner Ansicht nach ebenso gut oder sogar besser treffen kann als ein Mensch“, sagt Waibel. Der Vorteil der KI sei aber, dass diese mehr Daten nutzen kann.
Und genau da liegt der Knackpunkt. Eine künstliche Intelligenz für die Pathologie zu entwickeln, war für die Macher von Mindpeak mit einigen Herausforderungen verbunden. Die erste Hürde war, überhaupt an Daten zu kommen. Eine KI-Software muss aber möglichst viele Informationen gesehen haben, um tatsächlich lernen zu können – am besten im Millionenbereich. Dann kann die Software sogar eigene Regeln erstellen und abstrahieren und so neue Strukturen erkennen, die sie zuvor noch nicht erkannt hat – wird also tatsächlich intelligent.
Zuvor allerdings müssen diese Daten generiert werden. Mindpeak hat dafür ein Netzwerk mit etwa 30 Pathologen aus der ganzen Welt aufgebaut, die Rohdaten aus Partnerlaboren für das Training der KI gelabelt haben. „Dafür müssen sie auf Gewebeschnitten einzelne Zellen klassifizieren und markieren, also annotieren. Das ist hochkomplex und kann nur von erfahrenen Experten wie Fachärzten gemacht werden“, sagt Mindpeak-CEO Faber. Die Ärzte analysieren dafür eingescannte Gewebeproben und markieren diese entsprechend ihren Auffälligkeiten, sodass die KI daraus lernen kann.
Da Pathologen aber ohnehin stark ausgelastet sind, weil immer weniger Ärzte immer komplexere Fälle bearbeiten müssen, hat das Start-up Onlinetools entwickelt, mit denen Ärzte auf der ganzen Welt mit möglichst wenig Zeitaufwand Daten generieren können. „Wir haben sehr strikte Qualitätschecks und nur die besten Experten zugelassen, sodass unsere Trainingsdaten am Ende so gut wie möglich sind“, erzählt Faber. Das hat einen bestimmten Hintergrund: Die Übereinstimmung zwischen einzelnen Pathologen liege häufig bei nur 80 Prozent, in manchen Bereichen sogar nur um 60 Prozent. „Wir haben also eine gewisse Variabilität, mit der wir umgehen müssen“, stellt Faber fest.
Deshalb hat Mindpeak eine hybride Herangehensweise entwickelt: Die Hamburger Firma nutzt die bereits gelabelten Daten, um die KI damit zu trainieren. Es kommen aber auch Daten zum Einsatz, bei denen zwar bekannt ist, dass Tumore vorliegen, aber nicht unbedingt wo. „Wir initialisieren die KI mit einer großen Menge an Bildern, die nicht gelabelt sind und trainieren dann fein nach mit den von den Experten gelabelten Daten.“
Etwa zwei Jahre und 1,5 Jahre und 1,5 Millionen Bilder hat es gebraucht, um die Mindpeak-KI zur Martkreife zu bringen. Dafür hat das Unternehmen Daten aus verschiedenen Laboren verwendet, um eine möglichst hohe Varianz zu erreichen. Damit haben die Hamburger eine weitere Herausforderung gemeistert, die einer der wesentlichen Gründe dafür war, warum künstliche Intelligenz bisher so wenig Einzug in den klinischen Alltag gefunden hat. Labore arbeiten mit unterschiedlichen Scannern und Färbeautomaten, was es noch schwieriger macht, gute Ergebnisse zu erzielen. Doch Mindpeak hat die KI über verschiedene Maschinen hinweg trainiert, mit unterschiedlichen Lichtverhältnissen klarzukommen. In einer Studie mit drei Färbeautomaten und sechs Scannern lieferte die KI in allen Fällen reproduzierbare Resultate. „Das ist definitiv ein Alleinstellungsmerkmal von uns und bisher von der Konkurrenz unerreicht“, sagt Faber. Zu den Konkurrenten zählen zum Beispiel das Start-up Paige aus New York oder Aignostics aus Berlin.
Allein hätten Faber und Lang das nicht bewerkstelligen können. „Wir haben früh gute Partner gefunden“, sagt Faber. Vor allem mit einem hämatopathologischen Labor in Hamburg hat Mindpeak von Anfang an eng zusammengearbeitet. Solche Partner braucht es zum einen, um in der Branche Fuß zu fassen und Gehör zu finden, zum anderen, um an die nötigen Daten und das Know-how zu kommen. Zudem arbeitet das Start-up eng mit verschiedenen Instituten, wie zum Beispiel dem Fraunhofer MEVIS oder dem Institut für Pathologie an der Charité in Berlin, zusammen, wenn es um die Entwicklung neuer Produkte oder klinischer Studien geht.
Derzeit hat die Mindpeak-KI als erste in Europa eine Zulassung für die In-vitro-Diagnostik von Brustkrebstumoren und wird in acht Laboren eingesetzt, die meisten in Deutschland, eines in den USA und eines in Polen. Zwei weitere Produkte sind bereits in der Entwicklung und sollen demnächst zugelassen werden: eine KI zur Erkennung von Lungenkrebstumoren, die Mindpeak gemeinsam mit der Universität Erlangen entwickelt sowie ein Produkt für Lymphknoten-Metastasen.
Um Partner und Kunden von ihren Produkten zu überzeugen, ist das Start-up einen ungewöhnlichen Weg gegangen: Denn auch wenn Medizinprodukte grundsätzlich streng reguliert sind, um die Patientensicherheit garantieren zu können, so ist der Prozess der KI-Entwicklung davon größtenteils ausgenommen. Im Medizinproduktegesetz geht es vor allem um die Entwicklung von Hardware wie Herzschrittmacher und andere Geräte, aber nicht um Softwareentwicklung. Mindpeak hat deshalb in zwei sogenannten DIN-SPECs, also Standarddokumenten unter der Leitung des Deutschen Instituts für Normung, niedergeschrieben, welches Vorgehen bei der Entwicklung ihrer Machine-Learning-Produkte zur Anwendung kommt. „Es war zunächst für uns selbst wichtig, unsere Vorgehensweise zu standardisieren und zu zeigen, dass alles gut geplant ist. Und unseren Partnern zeigt es klar, dass wir hier professionell vorgehen“, sagt Faber.
Er geht davon aus, dass solche Standards in Zukunft noch deutlich an Bedeutung gewinnen. In den USA beispielsweise gebe es bereits die „Good Machine Learning Practice“ der Arzneimittelbehörde FDA. „Das geht stark in die Richtung, was wir mit den DIN-SPECs in Deutschland geschaffen haben“, sagt Faber. Normen könnten eine gute Ergänzung sein zu den bestehenden, eher technischen Regularien für KI-Anwendungen.
Mindpeak musste sich auf dem Weg zu seiner KI nämlich durch etliche unpassende Vorschriften wühlen. Angesichts der Potenziale, die in KI im Gesundheitssektor stecken, wäre da eine Anpassung sicher angebracht.
ANZEIGE