Corona hilft Startups zum Durchbruch
Viele Start-ups kämpfen in der Corona-Krise ums Überleben. Doch im Gesundheitswesen wird die Krise zur echten Chance: Junge Digital-Health-Unternehmen kommen vergleichsweise gut durch die Zeit – und können in Kürze auf zusätzliche Einnahmen hoffen.
Von Hendrik Bensch
Es sind Werte, von denen Unternehmen in anderen Branchen in Zeiten der Corona-Krise nur träumen können: Unter den Digital-Health-Start-ups berichteten im April 80 Prozent, dass Nutzer ihre Anwendungen häufiger verwenden. Ungefähr genauso viele sehen derzeit neue Geschäftschancen. Auch die Zahl neuer Nutzer ist gestiegen. Das gilt zumindest für die Unternehmen, die bei einer Umfrage der Beratung Strategy& und des Spitzenverbands Digitale Gesundheitsversorgung Einblicke in ihre Geschäftslage gaben.
Der optimistische Blick in die Zukunft zeigt sich bei den Start-ups in der Branche vor allem in der Telemedizin. Allein im März und April haben sich beispielweise mehr als 8.000 niedergelassene Ärzte, Medizinische Versorgungszentren, Krankenhäuser, Psychologen und Psychotherapeuten beim Anbieter von Videosprechstunden arztkonsultation.de angemeldet. Die Plattform für Videosprechstunden Teleclinic wuchs im März mit fünfzig Prozent von Woche zu Woche. Auch Mental-Health-Start-ups, wie HelloBetter oder Selfapy, verzeichnen starke Zuwächse.
Während viele Jungunternehmen aus anderen Branchen derzeit wegen massiver Umsatzeinbußen ums Überleben kämpfen, sind die meisten Digital-Health-Start-ups optimistisch. „Überaus positiv“, so sieht etwa Johannes Keienburg die Lage für die digitale Gesundheitsbranche. Er ist Geschäftsführer von Heartbeat Labs, einer Berliner Firma, die Digital-Health-Unternehmen aufbaut. Zum Portfolio der Berliner gehört beispielsweise das Start-up Kinderheldin, das eine telemedizinische Beratung für Schwangere und junge Eltern anbietet. „Seit Ausbruch der Corona-Krise ist die Zahl der Nutzer im zweistelligen Prozentbereich gewachsen“, berichtet Keienburg.
Der Geschäftsführer von Heartbeat Labs sieht unter anderem Modelle im Bereich Digital Pharma, consumer-oriented Medicine und Infrastruktur im Gesundheitsbereich im Aufwind. Die Corona-Krise sei nun ein „Beschleuniger“ für das Wachstum digitaler Gesundheits-Start-ups, so Keienburg. „Die Krise wird dem Bereich jetzt zum Durchbruch verhelfen.“ Und auch die Ergebnisse einer Umfrage der Deutschen Börse unter Investoren deuten darauf hin, dass der Gesundheitssektor vergleichsweise gut durch die Corona-Pandemie kommen könnte: Dem Healthcare-Bereich trauen die Kapitalgeber am ehesten zu, langfristig von der Krise zu profitieren.
Natürlich gibt es auch Start-ups in anderen Branchen, die gerade auf der Gewinnerseite stehen. Essenslieferdienste boomen. Auch bei Unternehmen, die digitale Lernlösungen oder digitale Workflow-Tools entwickelt haben, gehen die Umsätze durch die Decke. Insgesamt sehen die Jungunternehmen in Deutschland ihre Lage aber als düster. „Die Corona-Krise trifft das deutsche Start-up-Ökosystem in seiner gesamten Breite“, so das Fazit einer Umfrage des Bundesverbands Deutsche Startups. Neun von zehn Unternehmen spüren negative Auswirkungen. Mehr als 70 Prozent fürchten um ihre Existenz. „Die Ergebnisse sind alarmierend“, so Verbandspräsident Christian Miele. Man stehe deshalb vor einem „massiven Start-up-Sterben“.
Insbesondere das Thema Finanzierung treibt die Jungunternehmen um. Denn die meisten von ihnen fahren in den Anfangsjahren noch keine Gewinne ein. Zur Finanzierung des laufenden Betriebs benötigen sie Risikokapital, an Bankkredite kommen sie nur schwerlich heran. Deswegen sind sie laufend auf neue Finanzierungsrunden angewiesen. Das Problem dabei: Angesichts der Corona-Krise halten viele Investoren ihr Geld zusammen. Vier von zehn Start-ups beklagten in einer aktuellen Umfrage ausbleibende Finanzierungen.
Die Zurückhaltung der Investoren dürfte sich auch auf die Digitalunternehmen im Gesundheitssektor auswirken. Drei Viertel der Venture-Capital-Investoren gehen davon aus, dass es für junge Unternehmen aus der Branche in diesem Jahr schwieriger wird Geld einzusammeln, hat eine Umfrage des US-Fonds Rock Health ergeben. Auch Lina Behrens schätzt die Lage ähnlich ein. „Die Finanzierung wird ein Problem für viele Start-ups werden“, sagt die Co-Geschäftsführerin von Flying Health und stellvertretende Präsidentin des Bundesverbands Deutsche Startups. Die Berliner Firma bringt Unternehmen aus der Gesundheitswirtschaft und Industrie sowie Digital-Health-Start-ups zusammen. „Wir werden zwar auch weiterhin neue Finanzierungsrunden sehen, einige werden sich aber verzögern.“ Immerhin: Anzeichen dafür, dass laufende Gespräche zu Investments nicht fortgesetzt würden, gebe es nicht, so Behrens.
In der Tat gibt es auch zu Corona-Zeiten noch einige Beispiele für Finanzierungsrunden. Sowohl das Mental-Health-Start-up HelloBetter als auch Vara, das ein auf Künstlicher Intelligenz basierendes Krebsscreening entwickelt, haben in den vergangenen Monaten Millionenfinanzierungen verkündet. Kaia Health sammelte sogar über 23 Millionen Euro ein. Das Start-up bietet digitale Therapieprogramme für Menschen mit chronischen Rückenschmerzen oder COPD an. Auch Heartbeat Labs hat in Corona-Zeiten noch weitere Finanzierungsrunden abgeschlossen, berichtet Johannes Keienburg. „Es ist zwar in Summe für den Markt nicht einfacher geworden – mit den richtigen Themen aber absolut möglich.“
Zudem stehen erste Investments bei „heal capital“ an, verrät Keienburg. Dabei handelt es sich um einen neuen Venture-Capital-Fonds für Digital Health, initiiert vom Verband der Privaten Krankenversicherung mit Heartbeat Labs und Flying Health als Ankerinvestoren. 100 Millionen Euro schwer soll der Fonds einmal werden. Zusagen für 90 Millionen Euro gibt es bereits.
Auch branchenübergreifend könnte möglicherweise bald wieder eine leichte Erholung einsetzen. Im dritten Quartal dürften Investoren wieder aktiver werden, schätzt Jan Brorhilker von Ernst & Young. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft veröffentlicht regelmäßig einen Überblick über Finanzierungsrunden hierzulande. Kapitalgeber würden derzeit auf neue Chancen lauern, so Brorhilker. „Die Kaufpreise sind gesunken, das werden Investoren mit einem finanziellen Polster nutzen.“
Für die jungen Unternehmen komme es derzeit angesichts der Zurückhaltung der Investoren zunächst darauf an, ihre Liquidität in den Griff zu bekommen. „Das ist jetzt existenziell“, sagt Brorhilker. Er geht davon aus, dass viele nun ihre Geschäftsmodelle anpassen werden. Sie müssten künftig schneller als bisher Einnahmen erzielen, um zu überleben.
Johannes Keienburg hat Digital-Health-Start-ups auch schon vor der Corona-Krise geraten, sehr frühzeitig Einnahmen zu generieren. „Es reicht nicht, innovativ zu sein und zu sagen: Wie wir Geld verdienen, darüber machen wir uns in fünf Jahren Gedanken.“ Er empfiehlt den Jungunternehmen zum Beispiel mit einem Selbstzahlermodell anzufangen, bei dem die Kunden die Kosten aus eigener Tasche übernehmen. Denn schließlich sei unklar, ob die gesetzliche Krankenversicherung die Kosten für die Anwendung erstatten werde. „Sich darauf zu verlassen ist riskant“, so Keienburg.
Für manche digitale Gesundheitsanwendung (DiGA) wird es jedoch bald so weit sein. Denn mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz kommt nun auch die „App auf Rezept“. Diejenigen Anwendungen, die bestimmte Voraussetzungen erfüllen, werden künftig von der Krankenkasse erstattet. Ende Juni hatten zwölf Unternehmen einen Antrag zur Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gestellt, erfuhr „Transformation Leader“ auf Anfrage. Der Antrag ist der erste Schritt, damit ein Unternehmen für die Gesundheitsanwendung im Rahmen der Regelversorgung eine Erstattung erhält. Das BfArM prüft die Anwendungen nun, unter anderem den Datenschutz und die Benutzerfreundlichkeit. Gibt die Behörde grünes Licht, sollen erste Anwendungen im August im Verzeichnis erscheinen. Sie werden damit erstattungsfähig.
Für Jungunternehmen wird das eine neue wichtige Einnahmequelle sein. Die Corona-Krise werde aber dennoch dazu führen, dass einige Start-ups aus dem Digital-Health-Bereich nicht überleben werden, schätzt Johannes Keienburg. „Die Krise wird weniger, aber dann auch widerstandsfähigere Modelle hervorbringen, die umso stärker sein werden.“
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