„Das heutige Gesundheitssystem steht künftig vor großen Herausforderungen“
Barbara Steffens über die Gesundheitsversorgung der Zukunft
Welche wichtigsten Vorteile sehen Sie dank innovativer Ansätze im Gesundheitsmarkt?
Das heutige Gesundheitssystem steht künftig vor großen Herausforderungen. Ohne Innovationen und grundlegende Strukturveränderungen wird spätestens für die Generation der geburtenstarken Jahrgänge keine adäquate Versorgung mehr verfügbar sein. Die Gründe sind vielfältig: Fachkräftemangel in Heilberufen wie Pflege, Pharmazie und Medizin, abnehmende finanzielle Ressourcen und gleichzeitig massiver Anstieg der Versorgungsbedarfe einer älter werdenden Gesellschaft. Hinzu kommen die Zunahme an Krebserkrankungen, Diabetes, psychischen Belastungen, Demenz und kardiologischen Erkrankungen, um nur einige zu nennen. Sie stellen die großen versorgungspolitischen Herausforderungen der nächsten Jahre dar.
Eine Lösungsmöglichkeit bieten innovative Ansätze wie Präzisionsmedizin, Telemedizin, elektronische Patientenakte, Digitalisierung, Arzneimittel-Therapiesicherheit und Robotik. Sie tragen zur Versorgungssicherheit bei, beschleunigen neue Therapiemöglichkeiten und setzen Ressourcen frei.
Voraussetzung hierfür ist, dass die Gesundheitsversorgung der Zukunft die digitalen Chancen zulässt. Die bessere Nutzung von Gesundheitsdaten für Versorgung, Forschung und Planung unter Wahrung des Identitätsschutzes der betroffenen Personen stellt in einem heterogenen und stark gegliederten Gesundheitswesen eine zentrale Herausforderung dar.
Welches Interesse hat Ihre Organisation an solchen Lösungen?
Wir wollen unsere Versicherten bestmöglich medizinisch versorgen. Das ist nur möglich, wenn wir die digitalen Chancen akzeptieren und optimal ausschöpfen. Dadurch können individuelle und auf den einzelnen Menschen zugeschnittene Versorgungskonzepte entwickelt werden, die helfen, gesund zu bleiben oder gesund zu werden.
Welche Vorgaben gelten bislang für den Einsatz von Innovationen in der Regelversorgung. Wie verlief der Prozess aus Ihrer Sicht?
Bis dato legt der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) innerhalb eines gesetzlich vorgegebenen Rahmens fest, welche Leistungen der medizinischen Versorgung von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden. Mit Einführung des Innovationsfonds stehen jährlich dreistellige Millionenbeträge für Erprobung innovativer Versorgungskonzepte bereit. Der beim G-BA eingerichtete Innovationsausschuss definiert die Schwerpunkte und Kriterien der Förderung und entscheidet über die eingegangenen Anträge. Erst nach erfolgreich evaluierter Durchführung können es die Projekte in die Regelversorgung schaffen.
Was ist/war daran unbefriedigend?
Gerade im Gesundheitswesen entwickeln sich vielfältige innovative Ansätze, die das Potenzial haben, die Qualität der medizinischen Versorgung zu verbessern. Um die Nutzer zukünftiger Angebote zu schützen und Vertrauen zu schaffen, braucht es noch vor Eintritt der digitalen Medizinprodukte in den Gesundheitsmarkt zuverlässige Prüfmechanismen. Damit digitaler Fortschritt nicht unnötig verzögert wird und Patienten schnellstmöglich einen sicheren Zugang zu den Vorteilen der Digitalisierung im Gesundheitswesen erhalten, müssen diese Mechanismen möglichst unkompliziert sein.
Wie wird diese Vorgehensweise neu aufgestellt?
Der Innovationsfonds wird vorerst bleiben. Die TK begrüßt das, schlägt jedoch vor, den Innovationsfonds nach Ablauf in ein Innovationsbudget zu überführen. Erste Erfahrungen zeigen, dass es der Fonds in der jetzigen Form nicht schafft, den Innovationsstau nachhaltig aufzulösen. Wir sehen eine erhebliche Bürokratisierung, die zu Kosten und einer Verlangsamung der Durchsetzung führt.
Unsere Idee des Innovationsbudgets sieht vor, dass Versorgungsinnovationen künftig regelhaft über die Krankenkassen mit einem Mindestausgabenwert von 2,50 Euro je Versicherten gefördert werden. Nicht verausgabte Mittel legt der GKV-Spitzenverband auf die Krankenkassen um, die mehr als den vorgeschriebenen Mindestwert ausgeben. Die Vorteile liegen auf der Hand: Mit dem Innovationsbudget bekommen die Krankenkassen ein Instrument, mit dem sie neue Versorgungsformen begleiten können. Das Ergebnis wäre eine unbürokratische, dauerhafte und nicht an bestimmte Produkte gebundene Förderung. In Zeiten der Digitalisierung – mit ihren kurzen Innovationszyklen – ein nicht zu unterschätzender Faktor für die Weiterentwicklung des Gesundheitswesens.
Wie bereiten Sie sich darauf vor?
Seit dem Start des Innovationsfonds sind wir verantwortlich oder als Partner in zahlreichen Projekten engagiert. Ziel ist es, gute Projekte nahtlos in die Regelversorgung zu überführen. Gleichzeitig sind wir aktiv im Bereich der Online-Therapien und Gesundheits-Apps.
Aus unserem Selbstverständnis als Innovationstreiber haben wir gemeinsam mit IBM für unsere Versicherten die elektronische Gesundheitsakte „TK-Safe“ entwickelt. Sie sichert den Versicherten die Souveränität über ihre persönlichen Gesundheitsinformationen und gibt ihnen ein Tool an die Hand, mit dem sie ihre Gesundheit aktiv managen können. Die TK begrüßt daher, dass ab 2021 Krankenkassen dazu verpflichtet werden, ihren Versicherten eine elektronische Patientenakte (ePA) zur Verfügung zu stellen.
Bitte nennen Sie Beispiele, wie durch den neuen Rahmen Patienten und Mitarbeiter im Gesundheitswesen nun rascher profitieren werden.
Mit dem Digitalen Versorgungsgesetz (DVG) will Gesundheitsminister Jens Spahn die Weichen stellen, damit die Digitalisierung im Gesundheitswesen endlich schneller voranschreitet. Beispielsweise erhalten Versicherte einen Anspruch auf digitale Gesundheitsanwendungen. Darunter fallen etwa Anwendungen, die bei der regelmäßigen Einnahme von Medikamenten helfen sowie unterstützende Apps bei Migräne, Bluthochdruck oder Diabetes.
Auch werden Telekonsilie in größerem Umfang ermöglicht und extrabudgetär vergütet. Die Inanspruchnahme einer Videosprechstunde wird vereinfacht. Ärztinnen und Ärzte dürfen künftig auf ihrer Internetseite über solche Angebote informieren.
Auch das Papier soll im Gesundheitswesen nach und nach verschwinden. Neben der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und dem E-Rezept kommt nun auch die elektronische Heil- und Hilfsmittelverordnung. Wer einer gesetzlichen Kasse freiwillig beitreten möchte, kann das künftig elektronisch tun.
Wo sehen Sie weiterhin Hürden? Wie lassen sich diese überwinden?
Ein offener Sachverhalt ist, dass die bundesunmittelbaren Krankenkassen vom Bundesversicherungsamt (BVA) und die Regionalkassen von Landesaufsichten geprüft werden. Zu beobachten ist dabei, dass bei vergleichbaren Sachverhalten, insbesondere bei Selektivverträgen oder Wahltarifen, unterschiedliche Entscheidungen getroffen werden.
Mit dem Entwurf des „Faire-Kassenwahl-Gesetzes“ (GKV-FKG) will die Politik jetzt gleiche und faire Ausgangsbedingungen für alle Wettbewerber schaffen. Das GKV-FKG sieht neben einheitlichen Regeln und dem Ausgleich regionaler Kostenunterschiede auch eine einheitliche Aufsicht vor. Dagegen formiert sich aktuell Widerstand aus den Ländern. Ein weiteres Thema: Die wesentliche Voraussetzung für digitale Anwendungen wie Videosprechstunden und Telekonsile ist eine funktionierende telematische Infrastruktur. Gerade auf dem Land, wo sich der Ärztemangel bereits bemerkbar macht, fehlt aber oft ein flächendeckendes und hochleistungsfähiges Internet.
Welche Rolle spielen elektronische Patientendaten in dieser Angebotslandschaft, welche Voraussetzungen sind hier ausschlaggebend?
Um substantiell die notwendigen Verbesserungen in der Versorgung zu erreichen, müssen wir die Chancen der Digitalisierung nutzen. Wir benötigen dazu neue Anwendungen wie etwa die Künstliche Intelligenz (KI), elektronische Patientenakten oder E-Rezepte. Experten sind sich einig, dass KI unser Leben zukünftig bedeutend verändern wird. So kann KI zum Beispiel dabei helfen, Krankheitssymptome zu bewerten, indem sie zuvor mit vielen Beispielen trainiert wurde.
KI soll und kann keinen Arzt ersetzen. Das wird schon daran deutlich, dass zum Beispiel beim Symptomcheck der App „Ada Health“ Ärzte den Algorithmus trainieren und ihm die Krankheitsbilder beibringen. Schon von Beginn an wird also menschliche Intelligenz benötigt. Auch künftig soll die App Ärzte unterstützen, um schneller eine Diagnose und Versorgung zu ermöglichen – ihnen also quasi zuarbeiten. Es geht um Kooperation zwischen Mensch und Maschine, nicht um Konkurrenz. Nicht alles, was technisch möglich ist und künftig möglich sein wird, ist ethisch vertretbar und für den Menschen sinnvoll.