„Die Krise erhöht den Druck“: Nur digitale Vorreiter haben Zukunftschancen – Interview mit Dr. Christian Heitmann, Curacon
Das deutsche Gesundheitswesen hinkt digital hinterher. Doch aufgrund der globalen Corona-Pandemie erleben telemedizinische Angebote einen Boom. Krankenhäuser und Pflegeheime müssen sich strategisch daranmachen, ihre Einrichtungen digital voranzubringen, sagt Dr. Christian Heitmann, Leiter des Geschäftsbereichs Unternehmensberatung bei Curacon.
Interview: Dr. Stephan Balling
Herr Dr. Heitmann, viele Unternehmen ändern angesichts der Corona-Krise ihre Workflows, Deutschland lernt gerade Homeoffice und dezentrales Arbeiten. In der Not gewinnen digitale Medien an Bedeutung. Steckt in der Krise, so schlimm sie ist, vielleicht auch eine Chance, auch für die Digitalisierung des Gesundheitswesens?
Ja, diese Chance sehe ich durchaus. Telemedizinische Angebote erleben gerade einen Boom, sie helfen, Distanzen zu überwinden und zugleich körperlichen Abstand zu wahren. In den Krankenhäusern gibt es natürlich nur eingeschränkt Möglichkeiten für Homeoffice, aber bei den Workflows und Prozessen gibt es gewaltige Effizienzpotenziale. Das ist wichtig, gerade in der Krise, wo jede Sekunde zählt, und die ohnehin stark belasteten Fachkräfte doch möglichst wenig Zeit mit administrativen Arbeiten zu tun haben sollten.
Ist Digitalisierung also folglich weniger eine Frage des Budgets, sondern vielmehr des Drucks, sich ändern zu müssen?
Die Notwendigkeit, digitale Prozesse zu verankern oder vielmehr Data-Warehouse-Systeme aufzubauen, um fundierte Entscheidungen treffen zu können, gab es natürlich schon vorher. Aber sicher, die Krise erhöht den Druck zusätzlich. Das Management von Gesundheitseinrichtungen darf sich aber nicht von kurzfristigen Ereignissen treiben lassen, sondern muss strategisch entscheiden, wo Digitalisierung sinnvoll ist, wie die Investitionen dafür finanziert werden und welche Strategie ein Haus damit verfolgt. Hier wird die Corona-Krise einiges verändern und Sinnhaftigkeit und Nützlichkeit digitaler Services beweisen. Entscheidend für den Erfolg ist, dass die Digitale Transformation Chefsache ist und die Unternehmensführung nicht glaubt, diese Aufgabe an die IT-Abteilung oder einzelne Fachbereiche delegieren zu können.
In den USA gibt es im Topmanagement von Krankenhäusern mittlerweile des Öfteren die Position eines Chief Patient Experience Officer, dessen Aufgabe es ist, alle Entscheidungen, auch die Digitalisierung, aus der Sicht des Patienten zu denken. Halten Sie das für sinnvoll?
Digitalisierung kann nur erfolgreich umgesetzt werden, wenn sie konsequent vom Patienten aus gedacht wird und strikt prozessbezogen ist. Um in das Thema einzusteigen sind die folgende Fragen zu beantworten und die sich daraus ergebenden Handlungsfelder zu priorisieren:
• Wo kann Digitalisierung in den zahlreichen Kernprozessen stattfinden?
• Was wollen wir mit Digitalisierung erreichen?
• Welche Ziele priorisieren wir, welche stellen wir hintenan?
• Wie viel Investitionsmittel sind erforderlich über welchen Zeitraum?
• Ist die Organisation des Krankenhauses in der Lage, die digitalen Maßnahmen umzusetzen?
Hier kann ein Chief Experience Officer helfen, die richtige Perspektive und die ganzheitliche Umsetzung im Blick zu halten.
Das klingt einfach, aber wo fängt ein Krankenhaus an, wenn es sich auf den Weg der Digitalisierung macht? Am Anfang des Patientenpfads, also etwa bei der Aufnahme?
Das muss vor Ort individuell entschieden werden. Es kann auch sein, dass es am sinnvollsten ist, zunächst die Prozesse im klinischen Bereich anzugehen, etwa das Terminmanagement zwischen Pflege und Diagnostik. Sehr hilfreich ist es dabei, sich die Prozesse mit ihrem jeweiligen Digitalisierungspotenzial genauer anzusehen. Um dies möglichst strukturiert und vollständig zu tun, haben wir ein strategisches Instrument entwickelt, die Digitalisierungslandkarte. Diese soll die verschiedenen Bereiche und die zugehörigen Prozesse im Krankenhaus visualisieren und deutlich machen, in welchen Bereichen es welche digitalen Potenziale gibt. Viele Prozesse hier lassen sich übrigens ohne große Investitionsmittel digitalisieren, die Technik ist in den Krankenhäusern häufig schon vorhanden! Andererseits bedarf es aber auch bestimmter Grundvoraussetzungen wie WLAN-Ausleuchtung oder des Einsatzes von Tablets, was höhere Investitionsbedarfe mit sich bringt.
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Zum Beispiel?
Denken Sie zum Beispiel an den Weg des Patienten von der Station in die Radiologie. Da telefoniert oft noch eine Pflegefachperson von der Station mit der Medizinischen Fachangestellten in der Radiologie, um Termine zu vereinbaren. Dabei haben die Krankenhäuser längst überall elektronische Terminplaner, oft auch im Krankenhausinformationssystem als Standard verankert. Die müssen nur freigeschaltet bzw. aktiv genutzt werden. Und die Ärzte müssen bereit sein, von ihren häufig noch papiergeführten Kalendern abzurücken, was im Privatleben schon selbstverständlich ist. Was das an Zeit sparen kann! Dies ist ein Bespiel für das Handlungsfeld „Digitale Workflowsteuerung“. Insgesamt haben wir elf Handlungsfelder definiert, anhand derer sich alle digitalen Prozesse diskutieren und ausgestalten lassen.
Was fällt auf Stationen unter „Sensorik“?
Denken Sie an ein Pflegeheim: Es gibt heute Inkontinenzprodukte mit Sensoren, die zeigen, wann zum Beispiel eine Windel gewechselt werden muss. Die Pflegefachperson muss also nicht mehr regelmäßig manuell prüfen, wie die aktuelle Situation ist, sondern wird zum Beispiel über ein mobiles Endgerät informiert, das mit der Sensorik verbunden ist. Das spart Zeit und kommt zugleich den Patienten zugute, denn ihnen kann zeitnah geholfen werden.
Viele Krankenhäuser arbeiten ja schon digital. Wo stehen die Häuser aus Ihrer Sicht? Und wächst damit wirklich die Effizienz? Oft kommt das etwa beim Pflegepersonal so nicht an.
Wir müssen zuerst klären, was digitales Arbeiten bedeutet. Oftmals werden Dokumente eingescannt und gespeichert. Das Erzeugen von PDFs hat aber mit Digitalisierung nichts zu tun! Entscheidend für digitale Prozesse ist es, Einzeldaten zu erfassen, und diese dann zu vernetzen und intelligent zu nutzen. Wenn also eine Pflegekraft einen Dokumentationsbogen auf Papier ausfüllt, dann einscannt und digital etwa per E-Mail versendet, anstatt ihn einfach in die Umlaufpost zu legen, kann das in der Tat eher Mehraufwand bedeuten, ohne messbaren digitalen Nutzen. Der kommt erst, und eigentlich darf man den Prozess erst dann als digital bezeichnen, wenn die Dokumentation direkt – am besten über mobile Endgeräte – und damit alle digital einzeln erfasst werden, sodass sich beispielsweise Daten aus verschiedenen Stationen und Bereichen in Verbindung bringen lassen. Der Mehrwert in der digitalen Welt entsteht durch die ortsgebundene Verfügbarkeit der Daten und deren Verknüpfung und Auswertung. Und künftig wird sich daran der Erfolg von Krankenhäusern und Pflegeheimen entscheiden.
Das Internet gibt es nun seit 25 Jahren, Personal Computer seit 40 Jahren. Weshalb soll Digitalisierung ausgerechnet jetzt über Erfolg oder Misserfolg entscheiden?
In den vergangenen 15 Jahren hat sich viel geändert: Wir haben heute nicht nur Daten, sind nicht nur vernetzt, sondern haben heute völlig andere Rechnergeschwindigkeiten. Zusätzlich haben wir mit Smartphones oder Tablets leistungsfähige Endgeräte, die nicht nur um ein Vielfaches schneller sind als ein PC in den 1990er-Jahren, sondern die Daten vor Ort jederzeit mit Daten aus dem Internet vernetzen und auswerten können. Daran sehen Sie aber auch: Wenn ein Krankenhaus nicht überall funktionierendes WLAN hat, kann es diese Technologien nicht nutzen und künftig nicht mehr mithalten.
Gerade der Aufbau von WLAN kostet Geld. Wie viel müssen Kliniken in die Digitalisierung investieren, um wettbewerbsfähig zu bleiben?
Ein Haus, das weniger als 2,5 Prozent seines Umsatzes in die IT-Infrastruktur investiert, wird mittelfristig abgehängt werden. Industrieunternehmen investieren heute mehr als fünf Prozent, Banken ggf. noch mehr. Gerade der Vergleich zwischen Banken und Gesundheitsunternehmen bietet sich an, da beide Branchen hochgradig IT-abhängig sind, wenn auch in anderer Ausgestaltungsform. Ich rate Krankenhäusern dringend, die Investitionen in digitale Anwendungen und eine gute IT-Infrastruktur weit oben auf ihre Agenda zu nehmen und nach der Corona zu priorisieren.
Die Digitalisierungslandkarte können Sie online hier bestellen:
Dr. Christian Heitmann ist seit Mitte 2019 Leiter des Geschäftsbereiches Unternehmensberatung bei der Curacon GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft. Nach seinem Studium zum Diplom-Wirtschaftsinformatiker promovierte er von 1998 bis 2002 am Institut für Revisionswesen in Münster. Im selben Jahr begann er seine Tätigkeit als Berater bei der Unternehmensberatung zeb. 2009 übernahm er als leitender Partner den Bereich zeb.Health Care und berät seitdem Krankenhäuser und Krankenhausträger sowie Unternehmen der Sozialwirtschaft.