Die Rahmenbedingungen verändern

In der Coronapandemie ließen sich die Sektorengrenzen des deutschen Gesundheitswesens überwinden, die medizinische Leistungsfähigkeit konnte sich voll entfalten. Es wurde einmal mehr deutlich: Wir müssen eine sektoren- und weitgehend barrierefreie Gesundheitsversorgung regional aufbauen. Das weiter hinauszuzögern würde erhebliche Gefahren mit sich bringen.

von Prof. Dr. mult. Eckhard Nagel, geschäftsführender Direktor des Instituts für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften, Universität Bayreuth

Die Coronapandemie hat revolutionäres Potenzial. Scheinbar alternativlose Entwicklungen werden gestoppt, langfristig ausgegrenzte Probleme kommen zum Vorschein, Handlungsdefizite werden gnadenlos aufgezeigt: Das gilt auch für das deutsche Gesundheitswesen. Sicher ist es in Deutschland vergleichsweise gut gelungen, Corona-Patienten mit akutem Versorgungsbedarf rasch und an der richtigen Stelle suffizient zu behandeln. Nicht nur eine gute Erreichbarkeit medizinischer Einrichtungen in der Fläche, auch ein starkes ambulantes ärztliches Angebot haben zur Deckung des Versorgungsbedarfs beigetragen. Die häufig gescholtenen Sektorengrenzen ließen sich in der Ausnahmesituation weitestgehend überwinden. Dieses Miteinander brachte eine medizinische Leistungsfähigkeit zur Entfaltung, die in Gesundheitssystemen mit der primären Konzentration auf stationäre Einrichtungen so nicht gegeben ist.

Schonungslos zeigt der Pandemie-Verlauf aber auch, was im deutschen Gesundheitswesen nicht gut funktioniert: Abstimmungs-, Kompetenz- und Planungsbrüche zwischen Bund, Ländern und Kommunen bildeten sich unter anderem in der kontroversen Diskussion um Impfstoffzuteilung und -verantwortung zwischen Impfzentren und der Vertragsärzteschaft ab. Auch das Erfordernis, sogenannte „Long Covid“-Patienten über die Akutphase hinaus in einem kontinuierlichen Behandlungsprozess zu betreuen, zeigt: Brüche zwischen ambulanter und stationärer Versorgung, mangelnde Kooperation zwischen Berufsgruppen oder unzureichende Integration von Prävention, Rehabilitation und Öffentlichem Gesundheitswesen gefährden Bürger unmittelbar.

Die relativ gute Gesamtgesundheit der deutschen Bevölkerung hängt wesentlich mit dem geografisch und medizinisch dichten Netz ambulanter und stationärer Versorgung zusammen. Zudem kennt das deutsche Gesundheitswesen kaum Zugangsbarrieren. Alle Überlegungen zur notwendigen Weiterentwicklung des Systems sollten sich an diesen Grundpfeilern orientieren.

Dabei dürfen aus der Pandemie keine Fehlschlüsse gezogen werden: Die heterogene Diskussion über eine bundesweite Steuerung vs. föderaler, lokaler Organisation übersieht oft, dass in der Regel lokale Gegebenheiten die Herausforderungen bei der Versorgung bestimmen. Entsprechend braucht es eine Bundesgesetzgebung, die den Verantwortlichen in der Region Handlungsspielräume eröffnet. Dies erfordert Zentren für hochspezialisierte zu behandelnde Erkrankungen. Aber die Grundversorgung muss in der Fläche von ambulanten/teilstationären/stationären Versorgungseinrichtungen abgedeckt werden. Bislang getrennte Verwaltungsbereiche müssen dabei zusammengeführt werden. Vergütung, Bedarfsplanung und Qualitätssicherung, als die zentralen Organisationsfelder für eine moderne, patientenzentrierte Daseinsfürsorge, gilt es neu zu regeln.

Medizinischer Fortschritt und demografischer Wandel haben bereits lange vor der Pandemie neue Anforderungen definiert. Zu den zentralen Herausforderungen gehört die zunehmende Zahl chronisch Kranker. Dahinter verbirgt sich zunächst eine positive Botschaft: Immer besser gelingt es, Menschen trotz Erkrankung aktive Teilhabe und ein vergleichsweise beschwerdefreies Leben bis ins hohe Alter zu ermöglichen. Dies dehnt aber auch den Versorgungsbedarf weiter über die Akutversorgung hinaus in verschiedene Versorgungszusammenhänge aus. Im Zuge der Digitalisierung braucht es auch eine kontinuierliche Verfügbarkeit gesundheitsbezogener Daten an jedem Behandlungsort. Lückenlose und zügige Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Behandlern und reibungsarme Koordination sind zwingend notwendig. Nichts davon ist aber strukturell im deutschen Gesundheitssystem realisiert.

Diese Defizite führen dazu, dass Behandlungsergebnisse hinter dem Möglichen zurückbleiben und finanzielle Ressourcen alles andere als optimal eingesetzt werden. Zudem leidet die intrinsische Motivation des medizinischen und pflegerischen Personals schwer. Die kontinuierliche, konzentrierte Beseitigung der Systembrüche ist also nicht nur aus medizinischer Sicht geboten. Sie dient auch der Stabilisierung des Systems selbst und der Sicherung seines Fachkräftenachwuchses.

Trotz mancher Versuche, Fehlanreize zu beseitigen, hat sich an der prinzipiellen Fehlausrichtung des Gesundheitswesens wenig geändert: Charakteristisch für dieses System ist die Fokussierung auf die Akutversorgung. Die Versorgung chronisch kranker Patienten, die heute dominierend für die Ausgabenstruktur der Krankenkassen ist, war in den Gründungsjahren des Rechtsrahmens, der dem heutigen SGB V entspricht, die Ausnahme. Heute ist sie die Regel.

Auf diesen grundlegenden Paradigmenwechsel hat das System zu keinem Zeitpunkt mit angemessener Entschlossenheit reagiert: Zwar gab es zahlreiche Versuche, die tatsächlichen Versorgungsbedarfe durch Rechtsbefugnisse zu flankieren. Dabei ist aber ein inzwischen unübersehbarer Flickenteppich an teils auch widersprüchlichen Sonderregelungen entstanden. Mit diesen Ausnahmen soll organisiert werden, was doch inzwischen die Regel geworden ist: Termini wie Integrierte Versorgung, Hausarztzentrierte Versorgung, Ambulantspezialfachärztliche Versorgung, Spezialisierte ambulante Palliativversorgung und diverse Spezialformen der ambulanten Versorgung am Krankenhaus suggerieren, dass hier im Wesentlichen Sonderfälle behandelt werden. Nicht zuletzt die Erfahrungen aus der Pandemie unterstreichen, dass in Zukunft ein sektoren- und weitgehend barrierefreies Versorgungskontinuum regional etabliert werden muss. Für Patienten ist die Frage, ob „ambulant“ oder „stationär“ irrelevant. Sie brauchen Hausärzte, die gemeinsam mit ihnen die angemessene Versorgung identifizieren und sie sicher innerhalb des Systems geleiten.

FACHKRÄFTE UND INTERPROFESSIONALITÄT

Ziel der Strukturänderung ist aber nicht nur eine angemessenere Patientenbehandlung. Ziel muss auch sein, die wachsende Unzufriedenheit der Healthcare Professionals zu durchbrechen und die medizinischen, heilberuflichen und pflegerischen Fachkräfte durch neue Rahmenbedingungen nachhaltig zu motivieren. Denn heute erkennen diese selbst sehr genau: Unser Gesundheitssystem zwingt sie dazu, sich nicht an einer erwünschten und vom Patienten erwarteten Versorgungsvernunft zu orientieren, sondern an einer fehlgeleiteten und bürokratisch überformten Verwaltungs- und Vergütungslogik. Es kann davon ausgegangen werden, dass Gesundheitsprofis ihre Patienten gut und angemessen (und vermutlich auch wirtschaftlich) versorgen wollen. Dass unser System sie davon abhält und stattdessen dazu zwingt, externen, nicht-medizinischen Parametern und Rahmensetzungen zu folgen, dürfte nicht nur für den hohen Krankenstand im Gesundheitswesen (mit-)verantwortlich sein. Viele Fachkräfte haben auch längst innerlich gekündigt, weil sie spüren, dass sich unsere Rahmenvorgaben für Verwaltung und Vergütung schon lange nicht mehr an den Erfordernissen einer patientenzentrierten Versorgung orientieren. Ein zeitgemäßes Versorgungssystem würde nicht nur auf die Belange der Patienten, auf die Wirtschaftlichkeit und Finanzierbarkeit für die Versicherten, sondern auch auf die Erfordernisse und Erwartungen der gegenwärtig und der zukünftig versorgenden Professionen reagieren. Von alledem sind wir noch immer weit entfernt.

Es braucht also neue Rahmenbedingungen. Und die aktuellen Erfahrungen zeigen, dass schon das Warten auf die nächste Legislaturperiode eher als riskant zu werten ist: Das SGB V muss angepasst und die gemeinsame Selbstverwaltung weiterentwickelt werden. Datenschutzrechtliche Konzepte, die den Patienten in den Mittelpunkt stellen, müssen etabliert werden – es braucht Sorgfalt und Zeit. Die Pandemie zeigt, dass ein Verzögern oder Hinausschieben notwendiger Handlungsschritte erhebliche Gefahren in sich birgt: Spätestens bei der nächsten internationalen oder nationalen Herausforderung unseres Gesundheitssystems dürfte dies zu einem Desaster führen.


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