Digitale Kliniken: Die Zukunft hat begonnen

Digitales Patientenmanagement und Patientenportal – am Klinikum soll nach den jüngsten Reformen der Politik und dem 4,3 Milliarden Euro schweren Förderfonds die Wertschöpfung für den Patienten neu gedacht werden. Der digitale Patientenpfad durch das Gesundheitswesen wird Realität, Patientenbeteiligung soll keine Worthülse mehr sein.

von Stephan Balling

Geht es nach der Deutschen Bahn, wachsen Nordhessen und Südniedersachsen in den kommenden Monaten enger zusammen. Zwischen Kassel und Göttingen soll die ICE-Strecke ab April 2021 weiter saniert werden. Ob auf der tunnelreichen Strecke dann der Traum vom Telefonat im Hochgeschwindigkeitszug wahr wird? Derzeit brechen Verbindungen dort nach maximal zehn Sekunden ab. Und Videotelefonie lässt die schwache Internetverbindung im ICE auch kaum zu.

Die Digitalisierung in Deutschland stockt, nicht nur im Zug. Immerhin soll es im Krankenhauswesen vorangehen, Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat zusammen mit den Bundesländern 4,3 Milliarden Euro bereitgestellt. Sein Krankenhauszukunftsfonds soll zum Digitalisierungsbeschleuniger in Deutschlands Kliniken werden.

Zwischen Kassel und Göttingen sorgt das für Tatendrang, wenngleich nicht im Zug, so doch im Klinikum Hann. Münden, einem Grund- und Regelversorger mit 158 Betten. Kostenloses WLAN für Patienten und Tablets an den Patienten-betten sind dort längst Standard.

Dass Deutschlands Krankenhäuser den digitalen Aufholprozess bitter nötig haben, zeigt der internationale Vergleich, der auf der Logik des „Electronic Medical Record Adaption Model“ (EMRAM) basiert. Dieses bewertet die Kliniken mittels einer Skala von 0 (keine Digitalisierung) bis 7 (papierloses Krankenhaus). Deutschlands Krankenhäuser erreichen im Mittel einen Wert von lediglich 2,3, bei einem europäischen Durchschnitt von immerhin 3,6, heißt es im Krankenhaus-Report 2019. Dabei habe sich der Abstand in den 2010er-Jahren sogar vergrößert im Vergleich zu Ländern wie der Türkei oder den USA mit Werten von 3,8 oder 5,3. Ein Krankenhaus der Stufe 7 sei in Deutschland überhaupt nicht zu finden.

Doch von solchen Daten lässt sich Alexander Faupel die gute Laune und seinen Optimismus nicht verderben. Faupel ist Chief Digital Officer (CDO) des Klinikums Hann. Münden und Leiter des Patientenmanagements. In Spahns Krankenhauszukunftsgesetz (KHZG), das im September 2020 in Kraft trat, sieht er „eine große Chance, Digitalisierung anders zu verstehen“. Sie müsse „Teil der Wertschöpfung eines Krankenhauses werden“, sagt er im Videocast „ZENO to Go Special“, spricht er davon, Prozesse neu und digital zu denken und zu gestalten. Digitale, über das eigene Krankenhaus hinaus gehende interoperable Prozesse sind das Ziel, seine Klinik stecke mitten in einem „großen Changeprozess“.

So soll sich der Grund- und Regelversorger auch künftig im Wettbewerb mit anderen Krankenhäusern und für eine sektorenübergreifende Patientenversorgung fit machen und positionieren. Laut GKV-Kliniksimulator steht das Krankenhaus im Wettbewerb mit neun anderen Krankenhäusern, darunter dem Schwergewicht der Uniklinik Göttingen.

Das Klinikum Hann. Münden sieht sich als innovativer Pulsgeber, nicht nur in der Digitalisierung, sondern auch in medizinischen Spezialbereichen wie der Nephrologie oder Transplantationsmedizin. „Wir haben nicht nur Patienten aus der näheren Umgebung, sondern auch überregional“, erklärt der Klinik-CDO.

Faupels Vision: Vom einweisenden Arzt bis zur Überleitung in eine Pflege- oder Rehaeinrichtung soll ein digitaler Patientenpfad für einen reibungslosen Ablauf sorgen. Vorsprung durch digitales Patientenmanagement. „Wir arbeiten gerade an einer Reihe von Projektanträgen“, erzählt er mit Blick auf den Krankenhauszukunftsfonds. Das Spahn‘sche Fördergesetz wird zum Beschleuniger, in Hann. Münden fiel der Startschuss aber lange vorher, ein erstes Etappenziel ist bereits erreicht: das Entlass- und Überleitungsmanagement interoperabel und digital zu gestalten.

Mit dem KHZG steht eine neue Aufgabe an: Krankenhäuser müssen digitale Patientenportale aufbauen. „Patienten sollen beispielsweise die Möglichkeit bekommen, bereits zu Hause, im geschützten Raum, Aufnahmebögen und behandlungsrelevante Unterlagen auszufüllen“, erklärt Faupel. Das KHZG verlange dies, ohne ein solches digitales Mitmach-Tool gibt es keine Förderung, drohen künftig sogar Abschläge auf die Vergütung.

„Der Patient wird damit souveräner, aber vor allem werden die Prozesse am Ende und nach der Krankenhausbehandlung besser, indem Versorgungs- und Medienbrüche vermieden werden können“, sagt Faupel. Insbesondere für Patienten, die von weiter entfernt gelegenen Orten kämen, sei dies nicht immer leicht, etwa wenn es darum gehe, für diese eine passende Einrichtung zur medizinischen Rehabilitation in Bayern oder eine Pflegeeinrichtung in Norddeutschland zu finden. „Versorgungslandschafen und entsprechende Kapazitäten sind hier oftmals unbekannt“, sagt Faupel. Um das zu erreichen, hat Faupel den Transformation Leader Maximilian Greschke und dessen Unternehmen Recare ins Boot geholt. Das Berliner Start-up verbindet nach eigenen Angaben bundesweit bereits mehr als 440 Akut- und Rehakliniken sowie über 13.000 weitere Leistungserbringer, darunter kommunale Schwergewichte wie Vivantes aus München oder die München Klinik, aber auch mehrere Uniklinika wie die Medizinische Hochschule Hannover.

„Wir sprechen zwar oft von Patientenzentrierung im Gesundheitswesen, aber faktisch sind Patienten in den seltensten Fällen beteiligt, wenn es zum Beispiel um eine Wunschklinik für eine Anschlussbehandlung in einer Rehaklinik geht“, stellt Greschke fest. Der Gründer und Recare-CEO ist überzeugt: „Patiententeilnahme wird im Patientenmanagement das große Zukunftsthema.“ Die Politik verlange mit ihrem Zukunftsplan, dass sich in den künftigen digitalen Patientenportalen alle drei Bereiche des Patientenpfades – Aufnahme-, Behandlungs- und Entlassmanagement – widerspiegeln. „Bis 2025 werden alle Krankenhäuser solche Portale aufbauen“, prognostiziert Greschke. Die Handhabung von digitalen Bögen zur Selbstanamnese werde für Patienten kein großes Hindernis darstellen, wenn sie erst mal das Internetangebot der Krankenhäuser nutzen. „Derzeit nutzen drei bis 10 Prozent der Patienten diese Portale, damit sie wirklich eine Wirkung entfalten, gilt es nun, diese Zahlen deutlich zu erhöhen“, mahnt Greschke.

Denkbar sei auch, dass Patienten Krankenhäusern bei der Aufnahme direkt ihre digital vorliegenden Gesundheitsdaten zukommen lassen. Dabei sieht Greschke allerdings Grenzen: „Die meisten elektronischen Patientenakten fungieren als Dokumentenverwaltung, arbeiten leider nicht mit strukturierten Daten.“ Was den digitalen Wandel angehe, sieht der Recare-Gründer durchaus Aufbruchsignale. Zwar stimme es leider immer noch, dass die Datenverarbeitung in den meisten Kliniken auf Bleistift, Papier und Fax beruhe. „Wir sehen aber eine massive Änderungswelle. Das KHZG sorgt für einen extremen Aufwind, obwohl die meisten Kliniken ihre Kapazitäten immer noch stark auf die Covid-19-Pandemie richten.“ Dabei helfe ausgerechnet auch der Datenschutz. „Immer mehr Krankenversicherungen senden und akzeptieren aus Sicherheitsgründen keine Patientendaten mehr per Fax, und verlangen für die Kommunikation eher digitale Wege, die mittlerweile als sicherer gelten.“

„Unser großes Ziel ist: die Faxgeräte abschaffen“, berichtet Klinik-CDO Faupel. „Wir können im Jahr 2021 nicht mehr mit der Technik aus den 1980er-Jahren arbeiten.“ Dabei gelte: Prozesse analysieren, Medienbrüche – Telefon, Fax, E-Mail – ausfindig machen, und mit interoperablen Lösungen einen neuen Patientenpfad im eigenen Haus und darüber hinaus gestalten. Wie man das angehe? „Ich habe zu Beginn einfach Patienten auf ihrem Weg durch unser Krankenhaus begleitet und alle Prozesse aktiv miterlebt.“ Das habe dazu geführt, von Anfang an auch externe Partner einzubinden – Rehakliniken, ambulante Pflegedienste und stationäre Einrichtungen der Kurz- und Langzeitpflege sowie Hilfsmittelerbringer. Dabei sei dann auch die Entscheidung gefallen, Recare ins Boot zu holen. Die Firma habe nicht nur in der Region Nordhessen/südliches Niedersachsenbereits viele Partner, sondern auch bundesweit ein breites Netz, und die Software sei einfach zu bedienen gewesen. „Wir wollen nicht einfach nur Telefon und Fax ersetzen, sondern größere Prozesszusammenhänge schaffen“, sagt Greschke und erklärt: „Deswegen haben wir frühzeitig angefangen, eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselungstechnologie in unsere Plattform zu integrieren, damit Krankenhäuser und Rehakliniken sowie Pflegeeinrichtungen sicher kommunizieren und Patientendaten austauschen können.“

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