Durchbruch für die Telemedizin

Katharina Jünger führt die Telemedizin-Plattform Teleclinic, die bereits vor Corona-Zeiten kräftig gewachsen ist. Das Start-up muss sich gegen starke Konkurrenz aus dem Ausland behaupten. Doch seit Kurzem ziehen die Münchener ihren Wettbewerbern um gesetzlich Versicherte davon – und gehen nach dem Verkauf an die „Zur Rose“-Gruppe gestärkt weiter voran.

Von Hendrik Bensch

Als Katharina Jünger aus der Ferne die Geschehnisse auf dem in Erfurt tagenden 121. Deutschen Ärztetag verfolgte, glaubte sie kurzzeitig, ihr großer Traum könne zerplatzen. Drei Jahre hatte die Mitgründerin und Geschäftsführerin von Teleclinic den Aufbau ihrer Telemedizin-Plattform vorangetrieben. Kapitalgeber hatten stets abgewinkt, wenn die Gründerin bei ihnen Gelder einwerben wollte. Deutschland sei beim Thema Telemedizin zu konservativ, hieß es. An dem engen rechtlichen Rahmen werde sich nichts ändern. Das hörte Katharina Jünger immer wieder. Doch vor der Hauptversammlung der Bundesärztekammer 2018 in Thüringens Hauptstadt standen die Zeichen auf Veränderung: Das ausschließliche Fernhandelsverbot sollte fallen, so schien es im Vorfeld. Zwar durften Mediziner auch schon zu diesem Zeitpunkt Patienten per Telefon oder über das Internet beraten und behandeln – aber eben nicht ausschließlich.

Am zweiten Tag der Hauptversammlung stand das Thema am Nachmittag auf der Tagesordnung, weiß Jünger noch wie heute. Am frühen Abend erfuhr sie jedoch per Twitter: Die Sitzung ist abgebrochen worden, es gab keine Entscheidung. „Da habe ich gedacht: Wahrscheinlich habe ich mich verrannt, es wird sich nichts ändern“, erinnert sich die Unternehmerin. Damals war sie zunächst ernüchtert, heute muss sie darüber lachen. Denn das Blatt wendete sich: Nach langen Diskussionen sprach sich am folgenden Tag eine große Mehrheit der Delegierten für eine Lockerung des Fernhandelsverbots aus. Für Teleclinic und andere Telemedizin-Unternehmen war der Weg frei. 

Ein paar Monate später stieg der erste Investor ein, Teleclinic baute ihr Team aus und fuhr die Marketingausgaben hoch. Seit Anfang 2019 wuchsen die Nutzerzahlen von Monat zu Monat um 20 Prozent. Im vergangenen Jahr liefen knapp 16.000 Behandlungen über die Münchener ab. Dieses Jahr sollen es bereits 100.000 werden. Und die Corona-Krise befeuert das Wachstum weiter. „Im  März sind wir von Woche zu Woche um 50 Prozent gewachsen“, sagt die Unternehmerin.

Katharina Jüngers Weg führte über kleinere Umwege in den Gesundheitssektor. Sie studierte zunächst Jura und machte dann ein Aufbaustudium am Center for Digital Technology and Management in München. Dass sie nicht als Juristin in einer Kanzlei arbeiten wollte, hatte sie schon früh gemerkt: „Ich wollte selber Entscheidungen treffen und Dinge bewegen und nicht nur bereits getroffene Entscheidungen noch einmal absichern“, sagt die 29-Jährige. In den letzten Zügen ihres Aufbaustudiums lernte sie den Radiologen Prof. Dr. Reinhard Meier kennen. Mit ihm und dem Wirtschaftsinformatiker Patrick Palacin gründete sie ihr Start-up mit Sitz in München. 

Dass sie sich in einen sehr komplizierten, weil stark regulierten Markt hineinwagte, war von Anfang an klar. Aber Jünger schreckte das nicht ab. „Regularien beschreiben ja nur den Ist-Zustand und sollten niemals dafür ausschlaggebend sein, wie wir unsere Zukunft planen“, so ihr Credo. Sie treibe vor allem der „Purpose“ an, wie sie sagt. Also die Sinnhaftigkeit ihres Unternehmens: Für einen Zugang zu guter Gesundheitsversorgung sorgen, das will sie. „Geld verdienen kann man woanders sicherlich einfacher.“ Und dass der Markt kompliziert ist, kommt ihr in gewisser Weise zupass. Sie brauche das Gefühl der Überforderung, erzählt sie. „Sonst wird mir sehr schnell langweilig.“ 

Der Telemedizin-Markt bietet genug Herausforderungen, er ist hart umkämpft. Mitte Juni gab es mehr als 30 von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zertifizierte Anbieter von Videosprechstunden. Zu den größten Teleclinic-Konkurrenten zählen zum einen Doctolib und Jameda, die vor allem als Arzttermin-Buchungsplattformen agieren. Wichtige Wettbewerber sind außerdem das schwedische Telemedizin-Start-up Kry und das britische Start-up Zava. 

Seit Ende Mai ist Teleclinic ihren Konkurrenten im Wettstreit um gesetzlich Versicherte einen Schritt voraus: Seitdem ist das Start-up der erste Anbieter in Deutschland, der gesetzlich krankenversicherten Patienten eine Videosprechstunde ohne zusätzliche Kosten ermöglicht – zumindest tagsüber. Abends und nachts müssen Teleclinic-Kunden Kosten nach der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) übernehmen. Bei Zava und Kry dürfte es mit der GKV-Erstattung voraussichtlich im Laufe dieses Jahr so weit sein.

Geld verdient das Münchener Start-up zum einen über eine Prämie für die Vermittlung an den Arzt. Zum anderen bietet die Plattform privaten Krankenversicherungen und gesetzlichen Krankenkassen ein Zusatzangebot: Patienten, die bei diesen Partnern versichert sind, können unter anderem schneller einen Arzttermin über die Plattform bekommen. 20 solcher Vereinbarungen hat Teleclinic bisher abgeschlossen.

Anfragen zu Kooperationen kämen auch von Kliniken, berichtet Katharina Jünger. Sie sieht die Zukunft ihres Unternehmens aber weiterhin im ambulanten Bereich. „Auch der stationäre Bereich ist spannend, aber nicht unser Fokus.“ Und seinen Fokus soll das Unternehmen auch regional beibehalten: Teleclinic soll sich weiterhin auf Deutschland konzentrieren. Konkurrenten wie Zava und Kry sind in mehreren Ländern aktiv. Doch die Strukturen der einzelnen Märkte seien sehr unterschiedlich, weiß Jünger. Von Land zu Land läuft etwa die Abrechnung von Gesundheitsleistungen anders ab, auch die Software, die Ärzte benutzen, ist überall anders. „Man muss ein Land sehr gut verstehen, um erfolgreich zu sein“, sagt sie. 

Statt neuer Kooperationen kam kürzlich der Paukenschlag: Die Schweizer „Zur Rose“-Gruppe übernahm Teleclinic für einen mittleren zweistelligen Millionen-Euro-Betrag. Zur Rose ist Europas größtes E-Commerce-Apotheken-Unternehmen, in Deutschland ist die Gruppe mit der Marke DocMorris aktiv. Ausschlaggebend für den Kauf war unter anderem, dass die Schweizer ein großes Potenzial bei elektronischen Rezepten sehen, die über Teleclinic abgewickelt werden: Die „Zur Rose“-Gruppe nimmt an, dass bei der Hälfte der Arzt-Konsultationen über die Telemedizin-Plattform E-Rezepte ausgestellt werden.

Auch nach der Übernahme soll die Marke Teleclinic nun erhalten bleiben. Noch völlig offen ist aber, wie sich die Nachfrage nach Videosprechstunden nach der Corona-Zeit entwickeln wird. Mittlerweile seien die Wachstumsraten wieder zurück auf dem Vor-Corona-Niveau, erzählt die Teleclinic-Chefin. „Die Deutschen sind zäh, was Veränderungen angeht“, sagt Jünger, lacht und bleibt optimistisch: „Es muss wohl noch viel Geld ins Marketing fließen, damit sich das ändert.“  


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