„Als Krankenkasse sehen wir uns in der Pflicht, die Gesundheitsversorgung nicht nur zu verwalten, sondern auch maßgeblich mitzugestalten.“
Roland Engehausen über die chancen und herausforderungen der digitalen Transformation im Gesundheitsbereich
Welche wichtigsten Vorteile sehen Sie dank innovativer Ansätze im Gesundheitsmarkt?
Jede neue Innovation bietet die Chance, Strukturen insgesamt zu hinterfragen und aus Patientensicht bessere Lösungen zu finden. So sorgen etwa Gesundheits-Apps dafür, dass die typischen Sektorengrenzen wie die Trennung zwischen Prävention und Vorsorge sowie zwischen Diagnostik und Therapie einfacher überwunden oder teilweise völlig aufgehoben werden.
Allgemein zielen innovative Ansätze in der Regel darauf ab, zu einer Lösung eines bestimmten Problems beziehungsweise zur Befriedigung eines Bedarfs beizutragen. Als gezielte „Problemlöser“ bringen sinnvolle innovative Ansätze also große Vorteile für jeden Markt und jede Branche. Weitere wichtige Probleme, die es in unserem Gesundheitswesen zu lösen gilt, sind beispielsweise die Unterversorgung in ländlichen Regionen oder der demografische Wandel. So ermöglicht die Telemedizin z. B. eine ortsunabhängige Versorgung und kann damit zur Entschärfung der Unterversorgung in ländlichen Regionen beitragen. Nicht zu vergessen ist hier natürlich auch das „Kerngeschäft“ des Gesundheitsmarkts; nämlich die Therapie von Erkrankungen. Hier bieten innovative Ansätze den wesentlichen Vorteil, dass sie die individuelle und kollektive Gesundheit verbessern. Wenn von Innovationen im Gesundheitsmarkt gesprochen wird, darf nicht vergessen werden, dass auch neue Therapieverfahren unter den Innovationsbegriff fallen. So haben z. B. Arzneimittelinnovationen zu wesentlichen Verbesserungen bei der Heilung bestimmter Erkrankungen beigetragen (z. B. Biologika oder früher Penicilline).
Welches Interesse hat Ihre Organisation an solchen Lösungen?
Wir möchten es unseren Versicherten einfach machen, die Leistungen zu bekommen, die sie benötigen und ihnen zustehen. Dazu gehören bei nachgewiesener Evidenz auch alle innovativen Therapien. Gerade bei Therapien für schwerkranke Menschen darf es keine Zweiklassen-Medizin geben im Sinne von “ihre gesetzliche Krankenkasse zahlt dies nicht”.
Innovationen helfen, Versorgungsprobleme spezifisch anzupacken. Als Krankenkasse sehen wir uns in der Pflicht, die Gesundheitsversorgung nicht nur zu verwalten, sondern auch maßgeblich mitzugestalten. Zur Sicherstellung einer nachhaltigen und zukunftsfähigen Versorgung, die medizinisch auf höchstem Niveau agiert, aber zugleich finanzierbar bleibt, bedarf es verschiedener Lösungsansätze. Innovationen sind ein Motor der Veränderung für ein zukunftsfähiges Gesundheitssystem – dies ist häufig notwendig, um das Gesundheitswesen schneller und flexibler zu denken!
Welche Vorgaben gelten bislang für den Einsatz von Innovationen in der Regelversorgung. Wie verlief der Prozess aus Ihrer Sicht?
Die Evidenz muss nachgewiesen sein oder zumindest – bezogen auf Prozessinnovationen – auf der Hand liegen. Eine wissenschaftliche Evaluation bei innovativen Projekten gehört zum selbstverständlichen Standard. Allerdings hat die Dynamik gerade bei digitalen Gesundheitsangeboten gezeigt, dass es vorteilhaft sein kann, ein mutiger Vorreiter zu sein. Ohne das Engagement mancher Kassen in eGA-Lösungen, wie etwa die IKK Südwest und weitere Krankenkassen mit Vivy, hätte es vermutlich die jetzige digitale Dynamik beim Aufbau einer ePA nicht gegeben.
Zu unterscheiden ist, welche Innovationen konkret gemeint sind. Der durch das AMNOG geprägte Prozess bei der Einführung von Arzneimittelinnovationen ist ein anderer, als der Einführungsprozess digitaler Versorgungsprodukte. Eine Gemeinsamkeit ist sicherlich die Voraussetzung zur Erbringung eines Wirksamkeitsnachweises mittels empirischer Evidenz. Die Einführung digitaler Versorgungsprodukte ist regelmäßig dadurch geprägt, dass einige wenige Krankenkassen diese als „Innovatoren“ oder „Frühadopter“ im Rahmen selektivvertraglicher Pilotprojekte erproben. Hierbei können dann auch wettbewerbliche Aspekte eine Rolle spielen, da der Einsatz des Versorgungsprodukts gleichzeitig eine wettbewerbliche Abgrenzung (Alleinstellungsmerkmal/USP) ermöglicht. Digitale Versorgungsprodukte, die positiv überzeugen können, „diffundieren“ nach und nach und erschließen so den Gesamtmarkt. Im Vorfeld des ersten Einsatzes gilt es hierbei diverse Prüfinstanzen zu überzeugen (Rechtsabteilungen, Versorgungsmanager- und analysten, Datenschützer der jeweiligen Krankenkassen, Aufsichtsbehörde der Krankenkassen, Investoren die die Finanzierung sichern etc.). Im größeren Stil werden Pilotprojekte zur Verbesserung der Versorgung derzeit im Rahmen von Förderungen durch den Innovationsfonds umgesetzt. Hierbei sind zusätzlich die Prüfinstanzen des Innovationsfonds zu beachten und die Projekte sind zeitlich befristet. Die Evaluation erfolgt regelmäßig im Rahmen von breit angelegten Studien, die von externen wissenschaftlichen Instituten durchgeführt werden. Gesetzgeberisch definiertes Ziel (bei erbrachtem Nutzennachweis) ist die Überführung der Versorgungsinnovationen aus dem Innovationsfonds in die Regelversorgung.
Was ist/war daran unbefriedigend?
Unbefriedigend sind zwei Punkte: Zum einen der Prozess der Übertragung in die Regelversorgung ist häufig schwer. Bestes aktuelles Beispiel ist die „Online-Sprechstunde“, also die gesicherte „Chat-Kommunikation” mit dem jeweiligen Hausarzt als große Chance, dass auch in der digitalen Kommunikation der bekannte Arzt weiter eine Rolle spielen kann. Sowohl die allgemeine Abrechnungsmöglichkeit ist – im Gegensatz zur Video-Sprechstunde, die aber im Praxis-Alltag einer normalen Arztpraxis untauglich ist – noch nicht gegeben. Somit sind noch viele Arztpraxen zurückhaltend, dieses Tool als Entlastung voller Wartezimmer anzuerkennen. Zum anderen müssen wir weiter am Wissenstransfer im Bereich der Diagnostik arbeiten. Wann fangen wir endlich an, über KI oder viel einfacher formuliert „Diagnose-Datenbank-Systeme” die individuelle Einschätzung eines Arztes durch das systematische Nutzen vorhandener Erkenntnisse zu ergänzen? Dabei gibt es schon gute Ansätze wie beispielsweise das Krebs-Register. Gleichwohl besteht hier weiter eine der größten Baustellen im Gesundheitswesen.
Wie wird diese Vorgehensweise durch das DGV neu aufgestellt?
Vorgehensweisen werden durch das neue Gesetz voraussichtlich neu definiert. Das DVG ermöglicht es Anbietern digitaler Versorgungsprodukte direkt eine Aufnahme in den gesetzlichen (Pflicht-)Leistungskatalog der GKV zu beantragen. Der Weg über Pilotprojekte mit einzelnen Krankenkassen ist dann in einzelnen Fällen nicht mehr nötig, sondern es kann ein „Direkteinstieg“ in die Regelversorgung erfolgen. Die Erbringung eines Wirksamkeitsnachweises (Nachweis eines positiven Nutzens) ist im Rahmen einer befristeten „Testlaufzeit“ aber dennoch erforderlich. Gleichzeitig eröffnet das DVG den Krankenkassen große Spielräume bei der Zusammenarbeit mit Anbietern digitaler Innovationen. Hier wäre beispielsweise mehr Spielraum bei der Information von Versicherten über entsprechende Leistungen, bei der Zusammenarbeit mit Medizinprodukteherstellern im Rahmen von Selektivverträgen nach § 140a SGB V zu nennen. Dagegen erscheint die Möglichkeit zur Förderung digitaler Innovationen durch den Erwerb von Investmentvermögen für Krankenkassen aus unserer Sicht eher eine nette aber völlig unnötige Spielwiese zu sein. Die Kapitalbeschaffung dürfte für hoffnungsvolle Innovationen weniger das Problem sein, als der förmliche und faktische Marktzugang. Für die IKK Südwest steht fest: wir wollen als Krankenkasse eine sinnvolle und mit guter Evidenz belegte Innovation für unsere Versicherten zeitnah öffnen und im konkreten Bedarfsfall ebenfalls aktiv anbieten. Dies macht uns als Partner – auch nach dem Direktzugang durch das DVG – gerade für Startups ohne große Vermarktungsbudgets weiterhin attraktiv.
Wie bereiten Sie sich darauf vor?
Bei uns steht es aktuell im Fokus, eine standardisierte Innovationsplattform aufzubauen. Wir gehen davon aus, dass die innovativen Projekte und Selektiv-Verträge weiter zunehmen werden und wir wollen da mitmachen. Dazu können wir aber nicht für jedes einzelne Projekt alle Administrationstätigkeiten wie Vertragsverwaltungen, Einschreibeprozesse und Abrechnungsverfahren neu erfinden. Daher arbeiten wir aktuell daran, die Umsetzung kluger neuer Lösungen für die Anbieter und für uns zukünftig einfacher zu machen. Insbesondere für unsere Versicherten soll der Zugang einfach und transparent sein. Dabei setzen wir auf eine modulare Logik.
Gleichzeitig positionieren wir uns auch weiterhin als starker und innovativer Partner für Entrepreneure aus dem Gesundheitsbereich. So sind wir als eine von 5 Krankenkassen an dem sogenannten Healthy Hub beteiligt. Der Healthy Hub ist eine Plattform, über die sich Digital-Health-Start-ups regelmäßig um Innovationspartnerschaften mit uns bewerben können. Die besten Ideen bekommen die Gelegenheit, sich gemeinsam mit einer Healthy Hub-Krankenkasse, in einem Praxistest zu beweisen. In diesem Rahmen unterstützen wir Innovationen auch weiterhin aktiv auf ihrem Weg in die Versorgung. Durch die hohen Anforderungen, die die GKV hierbei stellt, wird ein verlässlicher Innovationspartner mit Expertise auch weiterhin von großer Bedeutung für Start-ups sein.
Bitte nennen Sie Beispiele, wie durch den neuen Rahmen Patienten und Mitarbeiter im Gesundheitswesen nun rascher profitieren werden.
Wir wollen die Innovationen nach Diagnosen gebündelt einfacher und transparenter gestalten und sinnvoll aufeinander aufbauen. So bieten wir mehrere Innovationen rund um Herzerkrankungen an. Diese sind aber noch nicht gut aufeinander abgestimmt. Zukünftig wollen wir neben der Regelversorgung und dem Disease-Management-Programme (DMP): Koronare Herzkrankheit (KHK) mehrere modulare Ergänzungsbausteine als Innovationen anbieten, die besser ineinander verzahnt sind.
Wo sehen Sie weiterhin Hürden? Wie lassen sich diese überwinden?
Die größte Hürde ist vermutlich, dass es den Akteuren im Gesundheitswesen – Leistungserbringer wie Kassen – derzeit vergleichsweise gut geht und daher der Veränderungsdruck noch nicht spürbar genug ist, um die neuen Chancen die sich durch neue Forschung und digitale Vernetzung ergeben, konsequent zu nutzen. Und leider ist das wichtige Feld der Pflege in den letzten Jahren eher stiefmütterlich behandelt worden – was sich aber nun immerhin erfreulicherweise ändert. Ebenso nehmen sowohl die Erwartungshaltung der Patienten als auch der Politik zu und es drängen neue Anbieter mit branchenübergreifenden Kenntnissen in den Gesundheitsmarkt, die dem Gesundheitswesen gut tun – auch wenn die damit verbundene Kommerzialisierung teilweise kritisch zu bewerten ist.
Eine weitere Hürde ist die strenge gesetzliche Reglementierung des Gesundheitswesens, die die systemische „Diffusion“ von Innovationen oftmals blockiert oder zumindest erschwert. Auf der einen Seite sind strenge gesetzliche Regelungen selbstverständlich durch die hohe sozialpolitische Bedeutung der Gesundheitsversorgung gerechtfertigt. Gleichzeitig können gesetzliche Regelungen allerdings oftmals nicht dem Tempo des medizinisch-technischen Fortschritts standhalten. So behindern zuweilen unzeitgemäße gesetzliche Regelungen den Eintritt von Innovationen in den Gesundheitsmarkt. Insgesamt ist der innovative „Spirit“ an einigen Stellen des Gesundheitswesens eher unterentwickelt, was dazu führt, dass viel Überzeugungsarbeit geleistet werden muss, bis eine Innovation ihren Weg in die Versorgung findet.
Welche Rolle spielen elektronische Patientendaten in dieser Angebotslandschaft, welche Voraussetzungen sind hier ausschlaggebend?
Mit dem laufenden ePA-Projekt werden Meilensteine geschaffen. Die möglichst weite Übernahme der europäischen Standards (IHE/HL7) ist dabei für die weitere Innovationskraft eine Grundvoraussetzung. Auf der Grundlage der ePA lassen sich viele weitere innovative Sprünge denken – sowohl in der Patientenbefähigung, der Diagnostik und Therapie als auch der Forschung, wenn die ePA-Daten gesichert, anonymisiert, nicht kommerziell und nur mit Patientenzustimmung auch dafür genutzt werden könnten.
Eine besondere Rolle spielen elektronische Patientendaten auch beim Thema personalisierte Medizin und Therapiesicherheit. Die Verfügbarkeit und automatisierte Auswertbarkeit von (Gesundheits-)Daten haben ein hohes Potenzial die Personalisierung, also die individuelle Anpassung einer Leistung an bestimmte Bedürfnisse bzw. Merkmale des Patienten, in der Gesundheitsversorgung voranzutreiben. Wenn mehr Daten in eine Therapieentscheidung einfließen, kann das Risiko einer Falschbehandlung erheblich reduziert werden. Zudem können Therapien bedarfsgerechter begleitet werden.