Europas Tech-Start-ups auf dem Vormarsch

Hightech vermutet man in den USA, in China oder anderen asiatischen Ländern, aber nicht in Europa. Dabei gibt es durchaus einige Bereiche, in denen Europa das Zeug hat, technologisch zu führen.

Von Melanie Croyé

Zwei, drei kräftige Tritte in die Pedale und das schicke, mattschwarze Bike düst los. Auf den ersten Blick ist nicht zu erkennen, dass es sich dabei um ein Elektrofahrrad handelt. Das Design ist schlicht gehalten, elegant, lediglich die Stange ist etwas dicker als gewöhnlich. Und das hat auch einen Grund: Der Akku des VanMoof S3 ist hier untergebracht, über einen kleinen Stecker an der Unterseite wird das Rad aufgeladen. An den beiden Enden der Stangen sind zudem die Lichter angebracht und oben vor der Lenkstange zeigt ein kleines LED-Display die Fahrtgeschwindigkeit an. Und die steigert sich per Knopfdruck in Windeseile auf 25 km/h – danach muss die eigene Muskelkraft den Antrieb übernehmen. Eine Fahrt mit dem VanMoof fühlt sich deshalb kaum anders an als mit einem herkömmlichen Fahrrad, man ist lediglich etwas schneller, auch Berge und das Anfahren sind einfacher.

Das überzeugt vor allem stilbewusste und sportliche Radfahrer, die bereit sind, für etwas mehr Fahrkomfort und vor allem für schickes Design die knapp 2.000 Euro auf den Tisch zu legen. Knapp 100 Millionen Euro Umsatz hat die Firma aus den Niederlanden im Jahr 2020 mit ihren E-Bikes gemacht und gerade 34 Millionen Euro von Investoren eingesammelt, um ihren Marktanteil weltweit auszubauen. Schon jetzt ist VanMoof die am schnellsten wachsende E-Bike-Marke. Es gibt aber einige Konkurrenten, die den Niederländern auf den Fersen sind, wie zum Beispiel Cowboy aus Belgien oder Oohbike aus Spanien. Der Erfolg dieser europäischen E-Bike-Pioniere zeigt, dass die Coronakrise auch ein Gutes hatte: Weltweit wird in die Fahrrad Infrastruktur investiert, die Nachfrage nach Rädern ist enorm gestiegen. Allein in Deutschland hat jedes dritte verkaufte Bike einen Elektroantrieb.

Der Umsatz durch E-Bikes wird in den nächsten sechs Jahren auf über 39 Milliarden Euro geschätzt, vielleicht eine gute Botschaft für von Feinstaub, Stickoxiden und Stau geplagte Metropolen. Dazu kommt der Klimawandel. Weltweit arbeiten Städte an einer Mobilitätswende. Fahrräder mit E-Antrieb können dabei eine entscheidende Rolle spielen. Der norwegische Hersteller Podbike setzt auf ein Pedelec mit vier Rädern und Kabine. Während sich der US-Hersteller Tesla immer wieder Kritik gefallen lassen muss, sei es zu Recht oder zu Unrecht, seine PS-starken Autos seien nur unter hohem Energie- und Umweltaufwand zu produzieren, basteln europäische Pioniere an einer alternativen E-Velo-Zukunft, mit schickem Design wie Apple und Top-Kundenservice wie Amazon.

VanMoof und Co ist es damit gelungen, Elektrofahrräder aus der Senioren-Ecke herauszuholen. Beim Thema E-Bike hat Europa die Nase vorn, vielleicht auch beim Thema Zukunft der urbanen Mobilität?

Und womöglich auf anderem Gebiet, auf einem, das zur ureigensten Domäne amerikanischer und asiatischer Tech-Giganten gehört. Sicher, den Markt für Unterhaltungselektronik dominieren amerikanische und asiatische Firmen. Egal ob es um Computer, Spielekonsolen, Smartphones oder Kameras geht, an Apple, Google, Microsoft, Sony und Samsung kommt keiner vorbei. Einstige europäische Tech-Giganten wie Nokia, Alcatel oder Ericsson haben den Anschluss längst verpasst.

Doch Europa entwickelt vermehrt eigene Stärken beim Thema Technologie, die auf den ersten Blick vielleicht nicht ersichtlich sind, langfristig aber zum Wettbewerbsvorteil werden können. Denn Europäer ticken einfach anders als Amerikaner oder Asiaten: Während Technologie dort vor allem als etwas Positives angesehen wird, das das Leben auf vielen Ebenen vereinfachen kann, macht man sich hier mehr Sorgen um langfristige Auswirkungen, um Daten- und Verbraucherschutz. Regulierung ist ein wichtiges Thema – und wird es in Zukunft noch mehr werden, denn die Regierungen in den USA (und in China) wollen diese Aufgabe nicht übernehmen.

Eine große Chance für Europa steckt in der weiteren Entwicklung der Künstlichen Intelligenz (KI/AI). Zwar sind auch hier aktuell große Konzerne aus den USA und aus China federführend, Europa ist aber im Begriff, einiges aufzuholen. Vor allem, wenn es um die rechtlichen und ethischen Rahmenbedingungen geht.

„Bei der Regulierung ist die EU führend und es ist ein fundamentales Element – und da denkt Europa anders als andere Regionen“, erklärt Marcus Gloger, Partner bei der Strategy&, der Strategieberatung von PwC. Er hat im Sommer die „European AI computing study“ herausgebracht und ist sich sicher: Schon jetzt gibt es in Europa viele gute Initiativen beim Thema Künstliche Intelligenz – und die EU selbst begleitet diesen Prozess regulatorisch, um ein europäisches Ökosystem dafür zu schaffen. „Europa ist in vielen Basisindustrien nach wie vor führend“, sagt Gloger. Als Beispiel nennt er Automatisierung, Transport, Cybersecurity, Nachhaltigkeit, Agrar und Healthcare. Diese lieferten eigentlich genügend Daten und auch die Hebel, KI sinnvoll einzusetzen. Allerdings schaffen viele Unternehmen es nicht, dieses Wissen zu kommerzialisieren.

Stattdessen kooperieren sie mit den großen US-Playern und geben die Daten somit quasi aus der Hand. Gloger ist der Meinung, dass sich das ändern muss. „Gerade beim Thema KI gibt es keinen besseren Ort als Europa. Wir haben gute rechtliche Voraussetzungen, wir haben die Forschung, kennen die Grundlagen, haben ein Verständnis für Datenschutz. Das ist eine Riesenchance – und die müssen wir jetzt nutzen“, fordert er.

Dafür müsste Unternehmertum stärker gefördert werden, die Start-up-Kultur stärker ausgebaut und vor allem Risikokapital bereitgestellt werden, europaweit. Dieser Meinung ist auch Rasmus Rothe von der Berliner KI-Start-up- Schmiede Merantix. Die Firma selbst wurde 2016 gegründet und hat seither vier Start-ups aus der Taufe gehoben, zum Beispiel die Brustkrebs-Diagnose- Software Vara oder Siasearch, das Sensordaten aus selbstfahrenden Autos analysiert. Im kommenden Frühjahr eröffnet Merantix in Berlin den „AI Campus“, einen Anlaufpunkt für zahlreiche weitere Firmen auf diesem Gebiet.

„Wir glauben, dass man viel voneinander lernen kann. Der AI Campus soll deshalb ein Sammelpunkt werden für Start-ups, KMUs und Konzerne, die sich mit KI beschäftigen“, erklärt Rothe. An den Standort Europa glaubt er vor allem wegen des großen industriellen Know-hows. „Bereiche wie Medizintechnik, Manufacturing, überhaupt der Mittelstand, das ist für Silicon-Valley-Unternehmen weit weg“, glaubt er.

Die Herausforderung sei nun, KI-Wissen und Industriewissen zusammenzubringen und daraus skalierbare Produkte zu machen. „Da hängen wir noch hinterher“, gibt er zu. In anderen Punkten ist Europa weiter: So sei es viel einfacher, hier selbst ein KI Produkt zu bauen, das nach europäischen ethischen Standards funktioniert, als in der Zukunft Produkte aus dem Ausland nach hiesigen Maßgaben zu regulieren. „Dafür müssen aber jetzt die Grundlagen geschaffen werden“, fordert er. Vor allem brauche es mehr Forscher, die unternehmerisch tätig werden. „Wir müssen jetzt starten, nicht erst in fünf Jahren“, sagt er. Es gebe viele gute Initiativen aus Europa heraus, auch wenn diese noch deutlich kleiner seien als das, was in den USA passiert.

Gegen die schiere Übermacht aus den USA und aus China anzukommen ist in vielen Technologiefeldern nahezu unmöglich. Eine Nische für sich haben die Hersteller nachhaltiger Smartphones wie Fairphone und Shift gefunden. Seit 2013 verkauft Fairphone aus den Niederlanden Smartphones, die deutlich fairer produziert sind als gängige Modelle von Apple, Samsung oder Huawei. Das Unternehmen legt dabei vor allem Wert auf Transparenz und faire Arbeitsbedingungen in der Lieferkette. Über 100.000 Fairphones wurden bisher verkauft.


So viel Gutes zu tun wie sie können und dabei so wenig Schaden wie möglich anrichten, ist der Unternehmensgrundsatz von SHIFT. Die Gründer Carsten (rechts) und Samuel Waldeck haben bereits über 100.000 Fairphones verkauft.

Immerhin etwa die Hälfte verkaufter Smartphones kann der deutsche Konkurrent Shift vorweisen. Dabei sieht sich Samuel Waldeck, der die Firma vor sechs Jahren mit seinem Bruder gegründet hat, eher als Mitstreiter zu Fairphone. Während bei jenen Fairness sogar im Namen steht, sei das bei Shift nur ein Teil des Anliegens. „Wir bauen Geräte mit gutem Design, die reparierbar sind und lange halten“, erklärt er. Im Unterschied zu den Niederländern hat Shift bis heute keine Investoren – und damit volle gestalterische Freiheit. Zum Startschuss sammelten die Brüder aus Falkenberg in Nordhessen Geld via Crowdfunding ein, seither werden Gewinne reinvestiert und gespendet.

„Uns geht es ums Allgemeinwohl, das macht uns auf dem Markt wohl einzigartig“, sagt Waldeck. Der 40-Jährige spricht überlegt, besonnen und mit einer ruhigen Stimme. Er will nichts verkaufen, sondern ist von seinem Produkt schlicht überzeugt. „Wenn das alte Smartphone kaputt geht, sollte man nicht sofort ein neues kaufen, sondern lieber versuchen, es zu reparieren.“ Shift-Nutzer machen sich vom schnelllebigen Geschäft mit den Geräten frei. Ihr Ansinnen ist es, ein Device über lange Zeit zu nutzen. „Deshalb haben unsere Nutzer es auch wertschätzend ‚Lovephone‘ genannt – und das haben wir aufgegriffen“, erklärt Waldeck.

Dazu kommt: Das Shift-Phone gibt es mit einer Version, die weder Apples iOS-Betriebssystem noch Googles Android nutzt. Wer mit Blick auf den Datenschutz den US-Tech-Giganten misstraut, kann eine googlefreie Android-Light-Version wählen, heißt es auf der Website von Shift. Dort wird auch ein „einzigartiges All-in-one-Device“ angekündigt, das Smartphone und Computer in einem Gerät kombiniert.

Der unter Nachhaltigkeitsaspekten aber zentrale Unterschied zu iPhone und Co: Smartphones wie das Fairphone oder Shift sind modular aufgebaut, ihre Besitzer sollen sie öffnen und reparieren können, wenn beispielsweise das Display reißt oder der Akku schlappmacht. Die Branchenriesen zielen eher darauf ab, dass man sein 1.000-Euro-Telefon alle zwei Jahre ersetzt. Shift macht trotz des gegenteiligen Ansatzes von Anfang an Gewinne, 2020 lag der Umsatz bei zehn Millionen Euro. Dennoch: „Uns würde es nicht geben, wenn es die Großen nicht gäbe. Technologie bedingt sich gegenseitig, das ist auch global gesehen wichtig.“ Nur weil der europäische Markt andere Anforderungen hat als der globale, heißt das nicht, dass sämtliche Technologien von außerhalb kommen müssen. Und manchmal bedingt eine einzelne Initiative dann wieder Größeres: So gibt es in Deutschland beispielsweise inzwischen drei Unternehmen, die mit Hochdruck an eigenen Microlaunchern, also Raketen, arbeiten, die kleinere Satelliten in den Weltraum befördern sollen: die zum OHB-Konzern gehörende Rocket Factory Augsburg, Isar Aerospace und Hylmpulse. Daraus ist ein Konzept entstanden, nach dem bereits 2021 Raketenstarts von einem eigenen Weltraumbahnhof in der Nordsee möglich sein könnten.

Ganz so weit kommt man mit einem E-Bike zwar nicht, für den Alltag sind die schicken Flitzer von VanMoof aber eine sehr europäische Lösung. Dabei hat sich Gründer Taco Carlier eher an amerikanischen Firmen wie Apple und Tesla orientiert. „Er wolle die Industrie disruptieren“, erklärte er in der Vergangenheit schon mehrfach. Und er beweist, dass das eben auch mal andersrum laufen kann: von Europa aus.


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