„Gemeinsam Europa wieder stark machen“

Die Covid-19-Pandemie stellt eine beispiellose Herausforderung für Europa und die ganze Welt dar. Als globale Gesundheitskrise hat sie die Gesellschaften und Volkswirtschaften der EU-Mitgliedsstaaten auf dramatische Weise getroffen. Sie erfordert dringendes, entschlossenes und umfassendes Handeln auf allen Ebenen, lokal, regional, national und insbesondere auch auf europäischer Ebene. In Zeiten offener Grenzen lassen sich Epidemien und andere globale Herausforderungen nur gemeinsam bekämpfen. Europas Staats- und Regierungs-Chefs scheinen das prinzipiell erkannt zu haben, wie ihre Gemeinsame Erklärung vom 26. März 2020 zeigt. Allein: Es gilt jetzt, an die Umsetzung zu gehen.

Von Alois Steidel

Zunächst gilt es, dem Bekenntnis zu „mehr Europa“ Taten folgen zu lassen, wenn die nationalen Staats- und Regierungschefs nun den neuen EU-Haushalt gestalten und den mehrjährigen europäischen Finanzrahmen 2021 bis 2027 (MFR) festlegen. Der MFR wird das Schlüsselinstrument für eine dauerhafte Erholung nach der Krise sein. Gemeinsam mit einem Aufbaufonds wird der nächste MFR die ambitionierte Antwort sein, die Europa benötigt zur Unterstützung unserer gemeinsamen Prioritäten. Europa braucht dafür eine Stärkung seiner gemeinsamen Institutionen und Infrastruktur sowie den entsprechenden Rechtsrahmen. Es braucht in Zukunft mehr EU-Investition in „Public Health“.

Prof. Dr. Günter Neubauer hat dies in seinem Vortrag auf dem 1. Virtuellen Krankenhaus-Controller-Tag am 12. Mai deutlich gemacht mit dem Hinweis und der Forderung: „Da Pandemien sich nicht an Grenzen halten, ist mittelfristig ein europaweites Notfallsystem zu entwickeln. Die EU sollte eine Eingreif-Reserve aufbauen, die sich aus den nationalen Krisenreserven zusammensetzt.“ 

Es gilt, die Resilienz unserer Gesellschaften in Europa zu stärken. Wie nötig Vernetzung und Zusammenarbeit sind, hat die Covid-19-Krise aufgezeigt. Um das zu erreichen, muss Europa ein Interoperabilitätspaket schnüren, um künftig schnell und koordiniert auf Notfälle und Krisen reagieren zu können. 

Die Vorschläge der EU-Kommission für ein krisenresilienteres Europa zielen in die richtige Richtung, die Mitgliedsstaaten müssen diese – auch im Rahmen des MFR – unterstützen. Dazu zählt der Beschluss der Europäischen Kommission, im Rahmen der Notfall-Reserve rescEU einen strategischen Vorrat an medizinischen Ausrüstungen wie Beatmungsgeräten und Schutzmasken anzulegen. Dieses Vorhaben gilt es zu stärken und weiterzuentwickeln und auf weitere Kapazitäten sowie Herausforderungen im Zusammenhang mit der Vorratshaltung von unentbehrlichem Gesundheitsmaterial zu erweitern. 

Auch die Idee der Kommission eines 9 Milliarden Euro schweren Programms „EU4Health“ sollten nationale Regierungen, EU-Parlament und -Kommission weiterverfolgen.

Digitalisierung  

Ein europäischer Schengenraum für Daten

Damit Europa funktioniert, international wettbewerbsfähig bleibt und sich gut gegen Pandemien wappnen kann, muss es ferner den digitalen Wandel annehmen und gestalten. Dieser bietet Chancen, aber auch Herausforderungen in Bezug auf die Rechte und Freiheiten jedes Einzelnen. Daher ist es von wesentlicher Bedeutung, dass die Grundrechte und die gemeinsamen Werte im Zuge der Digitalisierung konstitutive Bestandteile der Digitalisierung werden.

Wir haben jetzt die Chance, für unsere Wettbewerbsfähigkeit und Souveränität in der Welt, ein innovatives, nachhaltiges und wettbewerbsfähiges europäisches digitales Ökosystem aufzubauen, insbesondere in Sektoren von strategischer Bedeutung und im Bereich der digitalen Schlüsseltechnologien und -infrastrukturen. Die digitale Souveränität der EU muss weiter gestärkt werden. Die Digitalisierung hat weitreichende Auswirkungen und muss bei allen Maßnahmen der EU kohärent berücksichtigt werden. Die Entwicklung von Infrastrukturen, Konnektivität und nutzerorientierten Diensten sowie deren Schutz wird eine wichtige Rolle spielen. Wir müssen ein eigenes Daten-Ökosystem schaffen, das uns einen verantwortungsbewussten Umgang in der Nutzung von Daten, Datenräumen, Datenaustausch und Datenschutz ermöglicht.


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Der Covid-19-Ausbruch verdeutlicht, wie wichtig die globale Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich ist. Wir benötigen Rechtsvorschriften, die eine gemeinsame Vorgehensweise zur Beschaffung von Daten im Rahmen klinischer Studien ermöglichen. Zur Pandemievorsorge in der EU muss der digitale Austausch von Gesundheitsdaten und die Stärkung vorhandener Strukturen wie das Europäische Zentrum für Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC) zukünftig verbessert werden. Wir brauchen einen europäischen Schengenraum für Daten.

Auch bei der gemeinsamen Beschaffung beispielsweise von medizinischem Schutzmaterial auf EU-Ebene oder der Entwicklung und Herstellung von Impfstoffen und antimikrobiellen und -viralen Medikamenten ist mehr Europa nötig. Die Rechtsvorschriften im Bereich Arzneimittel und Medizinprodukte müssen deshalb aktualisiert und mit den nationalstaatlichen Verfahren abgestimmt und synchronisiert werden, damit wir schneller reagieren können und das – nationale – Eigenversorgungsprinzip überhaupt greifen kann. 

Verwirklichung eines fairen und sozialen Europas

Gesundheit ist längst ein europäisches Thema: Mit ihrer bereits im Jahre 2016 ergriffenen Initiative der „Europäischen Säule sozialer Rechte“ (ESSR), eröffnete die Europäische Kommission eine neue Phase supranationaler Politikgestaltung. Das Dokument ist der Fahrplan für umfangreiche Maßnahmen mit dem Ziel weitreichender Reformen der Europäischen Arbeitsmärkte und Sozialsysteme. Die ESSR ist dabei nicht sektoral angelegt, sondern ganzheitlich als soziales Zukunftsprogramm der EU zu verstehen, das neben einer ambitionierten Präambel drei thematisch abgegrenzte Kapitel mit Zielwerten für 20 arbeitsmarkt- und sozialpolitisch relevante Bereiche beinhaltet. In Kapitel III geht es um Sozialschutz und soziale Inklusion. Dort sind bereits die Themen Gesundheitsversorgung, Langzeitpflege und Zugang zu essenziellen Dienstleitungen verortet.

Die Kommission spricht sich darin für eine „Gestaltung von Sozialschutzsystemen“ aus, was in der Konsequenz auch „die Entwicklung neuer und integrierter Gesundheits- und Sozialfürsorgemodelle“ erfordert. Ein auf den Patienten ausgerichteter Ansatz könnte eine erschwingliche, aber gleichwohl hochwertige und leistungsfähige Gesundheitsversorgung für alle sicherstellen, die dazu beiträgt, eine bessere Prozess- und Ergebnisqualität zu erzielen, zum Beispiel kürzere Wartezeiten auf eine Behandlung und problemloser Zugang zur Pflege.

Eine EU-Agenda für Gesundheits- und Pflegepolitik

Krankheiten wie Krebs, Diabetes und Demenz sowie die Behandlung von seltenen Erkrankungen müssen europäisch bekämpft und erforscht werden. Unerlässlich hierfür ist eine europäische Präventionsstrategie, ein europäisches Krebsregister und ein Gesundheitsfonds für teure Behandlungen von Kindern bei seltenen Erkrankungen. Ein europaweites Gesundheitsportal und die Stärkung der Städte und Gemeinden im Hinblick auf die Gesundheit der Bürger sind darüber hinaus wichtige Elemente der Förderung von Health Literacy.

Unter dem Motto „Gemeinsam. Europa wieder stark machen“ liegt es in der zweiten Hälfte 2020 in den Händen der Deutschen EU-Ratspräsidentschaft, die Bewältigung der gesundheitlichen, wirtschaftspolitischen und sozialen Herausforderungen der Pandemie in den Mittelpunkt der Gemeinschaft zu stellen.  

Alois G. Steidel 

Gründer, Eigentümer und CEO der K|M|S Vertrieb und Services AG, Unterhaching

Schwerpunkte: Wissensmanagement und Consulting in der Gesundheitswirtschaft, Entwicklung von Managementinformationssystemen

  • Leiter des Ayinger Gesprächskreises
  • Mitglied des Präsidiums des Clubs der Gesundheitswirtschaft(cdgw)
  • Präsident des Club Corbeau
  • Generaldirektor der BMB SA
  • Geschäftsführer des Zukunftsinstituts Gesundheitswirtschaft.