Gesundheit regional vernetzen
Die Coronapandemie hat wieder einmal die Stärke regionaler Kräfte bei der Gesundheitsversorgung aufgezeigt. Dennoch setzen wir in Deutschland immer noch stark auf zentralstaatliche Lösungen. Es ist Zeit für ein neues Geschäftsmodell im Gesundheitswesen, in dem die Ebene vor Ort mehr Verantwortung übernimmt.
Von Dr. h. c. Helmut Hildebrandt, Vorstandsvorsitzender OptiMedis AG
Gestehen wir es uns ein: Die herkömmlichen Geschäftsmodelle im Gesundheitswesen haben viele Fortschritte möglich gemacht – aber sie sind verbraucht, werden von vielen abgelehnt und taugen nicht mehr für die Zukunft. Junge wie alte Ärzte fordern „Rettet die Medizin“ und wollen das Fallpauschalensystem im Krankenhaus ersetzt oder zumindest grundlegend reformiert sehen. Dringend benötigte Pflegekräfte verlassen enttäuscht den Beruf und klagen über Unterbesetzung und viel zu knappe Zeitbudgets. Bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein reicht die Ablehnung privatwirtschaftlichen Unternehmertums im Pflege- und Krankenhausbereich. Arztpraxen als Teil von investorengetriebenen MVZ-Kettenmodellen könnte Ähnliches widerfahren. Und das Image der Pharmaindustrie hat sich auch durch spektakuläre Erfolge, wie dem durch den Impfstoff von BioNTech, kaum nachhaltig verbessert. Zwangslizensierungen sind bereits in der Diskussion. Nur die Start-up-Lösungen im digitalen Bereich sind von einem „Rollback“ Richtung staatlicher Bewirtschaftung noch weitgehend verschont geblieben. Sie machen hingegen trotz formellen Zugangs zur Finanzierung durch die Krankenkassen die Erfahrung, dass das System als Ganzes innovationshemmend ist – und die Patienten ihre Lösungen nur zögerlich annehmen. Es ist eine erstaunliche Wiederbelebung der Hoffnung auf staatliches Wohlverhalten. Und das trotz – gelinde gesagt – problematischer Erfahrungen bei der nur teilweise geglückten organisatorischen Handlungsfähigkeit des Staates in der Pandemie.
In dieser Zeit kommt eine neue Diskussion über Geschäftsmodelle, die Gesundheitsproduktion belohnen, vielleicht gerade recht. Insbesondere für die Krankenhausfinanzierung wird dazu gern über „Regionalbudgets“ nachgedacht. Wenn man auch die ambulanten und pflegerischen Leistungen miterfassen will, wird dafür gern der Begriff der „Gesundheitsregionen“ genutzt. Beide Diskussionen erfolgen aus einer ähnlichen Überlegung.
Die Verteilung der Finanzmittel in unserem Gesundheitswesen folgt im Wesentlichen einem Modell aus dem 19. Jahrhundert, das mit geringen Veränderungen in das 21. Jahrhundert übertragen wurde: dem „Kostendeckungsprinzip“. In der Ökonomie ist jedoch hinreichend bekannt, für welche Anreize eine Preisfestsetzung oder -verhandlung auf der Basis von angenommenen oder festgestellten Kosten sorgt: Die Leistungserbringer erhalten einen Anreiz, ihre Leistungsmenge zu erhöhen, um die wirtschaftlichen Vorteile einer größeren Produktionsmenge für sich einzufahren (und nicht von einer erstarkenden Konkurrenz niedergedrückt zu werden).
Der zweite Anreiz zielt auf die interne Kostenminimierung. Diese gelingt am besten, indem man die Arbeitszeiten teurer Angestellter verkürzt und gleichzeitig möglichst niedrig bezahlte Arbeitskräfte einsetzt. Genau diese Situation gab Anlass für einige hektische Gesetzgebungsverfahren der letzten Zeit. Dazu gehörte unter anderem die Ausgliederung der Pflege aus den Diagnosis Related Groups (DRG) sowie die Vorgabe von Mindestzahlen bei der Personalbemessung. Alles in dem Versuch, jeweils dem neuesten öffentlich diskutierten Problem wieder zumindest so lange Herr zu werden, bis die betriebswirtschaftliche Intelligenz der Akteurinnen und Akteure einen neuen Weg gefunden hat, ihren eigenen Nutzen zulasten der Krankenkassen und der Gesellschaft zu erhöhen.
Der Gedanke von „Regionalbudgets“ setzt auf die Umkehr der Anreizsystematik: weg von „Volume“ (Menge) hin zu „Value“ (Nutzen). Die zunächst am einfachsten erscheinende Lösung: Ein Krankenhaus erhält unabhängig von seiner Leistung für eine definierte Bevölkerung ein festes Budget. In diesem Fall gäbe es keinen Anreiz mehr, Patienten eine orthopädische Operation anzubieten, wenn auch eine konservative und mobilisierende Behandlung den gleichen oder vielleicht sogar den höheren Nutzen bieten würde. Im Bereich der Psychiatrie sind derartige Regionalbudgets erprobt worden, zunächst in Schleswig-Holstein, später auch anderswo.
Vereinfacht ausgedrückt erhält das Krankenhaus damit die freie Wahlmöglichkeit: Unter Beibehaltung des stationären Budgets und der Weiterentwicklung über die Jahre können vormals stationär behandelte Patienten wahlweise auch ambulant oder mit Hausbesuchen behandelt werden. Das Krankenhaus „verliert“ damit kein Budget, erhält aber größere Freiheitsgrade bei den Behandlungsmöglichkeiten durch Ärzte und psychiatrisch qualifizierte Pflegekräfte. Gerade in der Psychiatrie ist das mit erheblichen Vorteilen für Patienten wie Behandler verbunden, wie Evaluationen zeigen. Diese Lösung ist sogar durch die regionalen Versorgungsaufträge für den Bereich der Psychiatrie erleichtert. Dennoch zeigen sich auch schon bei dieser relativ begrenzten Lösung erste Herausforderungen. So stellt sich die Frage: Wie lassen sich neue Fehlanreize vermeiden, etwa bei den Leistungsverschiebungen zwischen dem klassisch finanzierten ambulanten Bereich der psychiatrischen Pflege und Medizin und dem jetzt neuen aus dem stationären Budget mitfinanzierten „semi“-ambulanten Bereich?
Was sich im engeren Bereich der Psychiatrie noch ganz gut überblicken lässt, wird komplexer, wenn Krankenhäuser die Organisationsfreiheit für die gesamte Versorgung erhalten. Sowohl die Vielzahl der Leistungserbringer in der ambulanten Versorgung als auch die Konkurrenz der Krankenhäuser untereinander sowie die Vielfalt der Krankenkassen erfordern hier ein komplexes Arrangement, wenn neue Fehlanreize zur Ertragsmaximierung ohne entsprechenden Gesundheitsnutzen für die Patienten vermieden werden sollen.
Berichte aus anderen Ländern und Gesundheitssystemen weisen aber auf die grundlegenden Vorteile solcher Modelle hin. Sie werden oft „Capitation“- oder „Kopfpauschalen“-Lösungen genannt. Eine sogenannte Regionale Integrationseinheit erhält in diesem Fall eine Pro-Kopf-Pauschale für die gesamte stationäre wie ambulante und pflegerische Versorgung einer Bevölkerung. Diese wird eventuell nach Alter und anderen Faktoren adjustiert. Wenn diese Integrationseinheit – nennen wir sie den Integrator – durch Prävention Krankheitssituationen und damit Kosten vermeidet, ist das zu ihrem Vorteil (und zu dem der Bevölkerung). Wenn der Integrator kostenintensive stationäre Leistungen erfolgreich durch preiswertere ambulante Leistungen ersetzen kann, ist das ebenfalls zu seinem Vorteil und dem des Patienten. Wichtig ist in einem solchen Modell: Der Patient muss ausweichen können. Meist ist das so geregelt, dass der Integrator für die Rechnung des nicht zu seinem System gehörenden ambulanten oder stationären Leistungserbringers den üblichen Tarif zu zahlen hat. Er hat dadurch keinen Anlass, dem Patienten die systeminterne Leistung vorzuenthalten. Umgekehrt hat der Integrator, wenn er wesentlich aus der Krankenhausperspektive her gedacht wird, den Anreiz, Krankenhausleistungen auch für die Bevölkerung anderer Regionen anzubieten, wenn er für diese ebenfalls die üblichen Tarife erhält. In der spanischsprachigen Welt gibt es einige solcher Lösungen, die sehr interessante Ergebnisse hervorgebracht haben.
ANZEIGE
In Deutschland wurde mit Start zum November 2005 eine Variante solcher Capitation-Lösungen entwickelt. Für die Versicherten der AOK Baden-Württemberg und der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau (SVLFG) im Kinzigtal in Südbaden hat die „Gesundes Kinzigtal GmbH“ als Integrator eine „virtuelle Budgetmitverantwortung“ übernommen. Die GmbH wird belohnt, wenn sie die Kostenentwicklung der Versicherten der beiden Krankenkassen für alle Sektoren der Versorgung unterhalb des üblichen Kostenwachstums hält – und damit der Krankenkasse einen verbesserten Deckungsbeitrag zukommen lässt. Sie erhält dann einen Bonus als Anteil an dem erreichten Gewinn der Kassen.
Die Versicherten sind frei, bei wem und wo sie sich ihre Leistungen holen. Auch den Leistungserbringern steht es frei, ob sie sich der Lösung anschließen oder nicht. In beiden Fällen bekommen sie ihr Geld weiter nach den üblichen Regeln. Die Abrechnung läuft zwischen den Krankenkassen und der GmbH ab. Im Effekt kommt das dem oben diskutierten Modell sehr nahe. Der Integrator – hier die Gesundes Kinzigtal GmbH – hat das Interesse, die Bevölkerung in der Region möglichst erfolgreich gesund zu erhalten beziehungsweise Erkrankungen wenn möglich ambulant zu behandeln. Ist ein Patient auf eine stationäre Leistung angewiesen, hat der Integrator hingegen ein Interesse ihn möglichst effizient in dem am besten dafür geeigneten Krankenhaus behandeln zu lassen. Neben der Gesundes Kinzigtal GmbH gibt es im Übrigen auch die „Gesunder Werra-Meißner Kreis GmbH“ und „Gesunder Schwalm-Eder-Kreis plus GmbH“ mit ähnlichen Lösungen.
Eine Gruppe von Gesundheitsexpertinnen und -experten hat aktuell – auch motiviert durch die Erfahrungen mit der Coronapandemie – vorgeschlagen, dieses Modell zum Vorbild für ein neues Konzept zu verwenden: Damit soll die überwiegend zentralistische Betrachtung von Gesundheit wieder stärker mit einer Verantwortungsübernahme durch die regionale Ebene ausbalanciert werden (siehe Literatur-Kasten: Hildebrandt et al. 2020 a und b). Nur auf einer überschaubaren Ebene, so die Expertengruppe, lässt sich agiles Management entwickeln. Denn kein zentraler Ausschuss muss entscheiden, ob der lokale Sportverein für ein besonderes Angebot für Hochaltrige einen finanziellen Zuschuss erhält – oder wie eine digitale Innovation in einer unterversorgten Region die Versorgung optimiert und wie sie finanziert wird.
Sie griffen damit einen Vorschlag auf, der im Herbst 2020 in einem Antrag der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen unter dem Begriff „Gesundheitsregionen“ vorgetragen wurde und im März in einer Anhörung des Gesundheitsausschusses überwiegend positive Unterstützung erhielt. Bereit in ihrer ersten Rede als Kanzlerkandidatin von Bündnis 90/Die Grünen ging Annalena Baerbock auf dieses Konzept ein: „An so vielen Orten in unserem Land gibt es so viele Beispiele, wo das Neue schon Realität ist. Die „Gesundheitsregionen“, gerade auch in ländlichen Regionen, wo Pflegekräfte, wo Ärztinnen und Ärzte, wo Therapeuten zusammenarbeiten, um in der Fläche alle gut zu versorgen … Aber all das funktioniert nur, weil Ausnahmen von festgefahrenen alten Regeln geschaffen wurden. In diesem Ausnahmemodus allein kommen wir aber nicht weiter, es gilt jetzt neue Regeln zu schaffen, und zwar so, dass das Beste nicht die Ausnahme ist, sondern der zukünftige Standard.“
„Innovative Gesundheitsregionen“, so die Bezeichnung in dem Vorschlag der Expertengruppe, sind dem Konzept zufolge Landkreise oder Stadtbezirke, für deren Bevölkerung jeweils ein eigener Vertrag zwischen möglichst allen Krankenkassen und einer lokalen, für die Gesundheitsversorgung verantwortlichen Gesellschaft geschlossen wird. Sie wird im Folgenden Regionale Integrationseinheit genannt. Private Krankenversicherer könnten sich ebenfalls beteiligen. Wegen der Übersichtlichkeit und der Steuerungsfähigkeit geht es um Größenordnungen von etwa 100.000 bis 200.000 Menschen. Der Vertrag soll die Regionalen Integrationseinheiten durch die Art der Vergütung dazu anhalten, im Verbund mit den lokalen Gesundheitsakteurinnen und -akteuren die Bevölkerung bestmöglich in ihrer Gesundheit und Versorgung zu unterstützen.
Die Regionalen Integrationseinheiten sollen deshalb für das Ergebnis, also für den erzeugten Gesundheitsnutzen wirtschaftlich belohnt werden – und nicht für die Anzahl der Leistungen wie die Leistungserbringer im heutigen Gesundheitswesen. Sie sollen ermutigt werden, lokal in die Verbesserung von Gesundheit zu investieren. Und sie sollen ermutigt werden, die Versorgung so gut zu vernetzen und zu integrieren, dass die Bevölkerung im Krankheitsfall gut aufgehoben ist. Immer dann allerdings, wenn es digitale Anwendungen beziehungsweise überregionale Versorgungsstrukturen gibt, die zu besseren Ergebnissen führen, sollen diese bevorzugt werden. Die Regionalen Integrationseinheiten können von regionalen Gesundheitskonferenzen unter Beteiligung der Bevölkerung oder von den demokratisch gewählten Gremien angestoßen werden. Zudem sollen sie diesen und den Krankenkassen gegenüber auch rechenschaftspflichtig sein. Die Rechenschaftspflichten und die Vergütung aus dem Erfolg wird in regionalen Integrationsverträgen geregelt. Darin sind auch die Form der Anschubfinanzierung und die spätere Rückzahlungspflicht definiert.
Analog zu dem Vorschlag der Grünen schlägt die Gruppe eine Zielmarke vor: Zehn Prozent der Bevölkerung sollen 2025 in den Genuss der Versorgung nach dem „Gesundheitsregionen“-Modell kommen. Folgende Vorteile werden in einer solchen Umkehr des Geschäftsmodells möglich:
- Für die lokalen Kommunen und Landkreise hätte diese Lösung den Vorteil, dass ein regionaler Interessent für die Produktion von Gesundheit den Öffentlichen Gesundheitsdienst in Prävention und Gesundheitsförderung aus eigenem Interesse heraus unterstützen wird,
- Die lokalen Betriebe (Arbeitgeber wie Arbeitnehmer) finden einen Partner für eine Unterstützung von betrieblichem Gesundheitsmanagement.
- Die Beitragssätze für die Krankenkassen können stabilisiert werden bzw. steigen zumindest auf längere Sicht nicht in dem Maße wie aktuell befürchtet werden muss.
- Für die Innovatoren, ob aus dem digitalen, medizintechnischen oder pharmazeutischen Bereich, entsteht mit einer solchen Regionalen Integrationseinheit ein Interessent, der ihre Innovationen zugunsten eines höheren Gesundheitsbenefits für die Bevölkerung aus eigenem Interesse aktiv unterstützen wird
- Für die Bürger der Region entsteht ein höheres Maß an Versorgungssicherheit, da der Integrator aus eigenem Interesse heraus dafür Sorge tragen muss, dass das richtige Maß an lokaler Versorgung bereitsteht, da ansonsten die aufwendigen Kosten evtl. Notarzteinsätze indirekt mit zu seinen Lasten gingen.
Und vielleicht lässt sich damit auch ein nachhaltiges neues privatwirtschaftliches Unternehmertum entwickeln, das durch sein Geschäftsmodell bereits auf die Produktion von Gemeinwohl ausgerichtet ist. „Social Entrepreneurship“ at its best.
HINTERGRUND-LITERATUR
Afraz F. C., Dreher C., Berghöfer A. (2020) Attraktive Arbeit in Zeiten des Fachkräftemangels? Sektorenübergreifende psychiatrische Versorgung im Regionalbudget. In: V.E. Amelung V E, Eble S, Sjuts R, Ballast T, Hildebrandt, H, Knieps F, Lägel R, Ex P (Hrsg): Die Zukunft der Arbeit im Gesundheitswesen. MMW, Berlin. https://doi.org/10.32745/9783954665372-i
Benstetter F., Lauerer M., Negele D., Schmid A. (2020) Prospektive regionale Gesundheitsbudgets. Internationale Erfahrungen und Implikationen für Deutschland. medhochzwei, Heidelberg (Studie im Auftrag der Stiftung Münch)
Braithwaite J., Mannion R., Matsuyama Y., Shekelle P., Whittaker S., Al-Adawi S. (2017) Health Systems Improvement Across the Globe: Success Stories from 60 Countries (Ed) CRC Press.
Hildebrandt H., Bahrs O., Borchers U., Glaeske G., Griewing B., Härter M., Hanneken J., Hilbert J., Klapper B., Klitzsch W., Köster-Steinebach I., Kurscheid C., Lodwig V., Pfaff H., Schaeffer D., Schrappe M., Sturm H., Wehkamp K.-H., Wild D. (2020) Integrierte Versorgung als nachhaltige Regelversorgung auf regionaler Ebene – Teil 1 Welt der Krankenversicherung, Medhochzwei Verlag, Heidelberg, 7-8/2020. 164-172 URL: https://www.medhochzwei-verlag.de/Zeitschriften/WdK/Leseprobe/Kostenlose-Ausgabe-WdK-7-8-2020.pdf und Teil 2. ebd., 9/2020. 209-217 URL: https://optimedis.de/files/Aktuelles/2020/WdK_9_2020_IV-als-Regelversorgung.pdf (abgerufen beide am 5.4.2021)