Grüne werfen Spahn in puncto Digitalisierung „Planlosigkeit“ vor

Etliche Regelungen, die Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) für die Digitalisierung des Gesundheitswesens angestoßen hat, haben eher Symbolcharakter. Problematisch wird es, wenn eine politische Frist oder der Beschluss einer Regelung allem anderen übergeordnet wird und der eigentliche Nutzen in den Hintergrund gerät.

Von Maria Klein-Schmeink

Die Digitalisierungsagenda von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) besteht bislang weitgehend aus einer schicken Fassade aus Blockchain-Wettbewerben und Apps. Das Fundament für eine gelungene und nachhaltig erfolgreiche Digitalisierung, nämlich Vertrauen und Akzeptanz der Nutzerinnen und Nutzer, vernachlässigt er hingegen völlig. So ist es nur eine Frage der Zeit, bis Spahns Luftschloss in sich zusammenfällt.

Wir müssen eine realistische und offene Debatte über Chancen und notwendige Voraussetzungen für die Digitalisierung des Gesundheitswesens führen. Selbstverständlich hat die Digitalisierung Potenzial, hoch spezialisiertes Wissen auch in ländliche Räume zu bringen, Sektorengrenzen durch eine bessere Kommunikation und Koordination von Ärztinnen und Ärzten und anderen Gesundheitsberufen zu überwinden und die medizinische Versorgung von Patientinnen und Patienten durch eine kluge Vernetzung der Leistungserbringer zu erreichen. Gleichzeitig sorgt eine elektronische Patientenakte (ePA) für die notwendige Transparenz für Patienten und verschafft ihnen Hoheit über ihre Daten. Doch damit diese Chancen nicht nur Luftschlösser bleiben, müssen Voraussetzungen geschaffen werden, die sicherstellen, dass die Daten der Patienten zu jeder Zeit sicher aufbewahrt und transportiert werden und die informationelle Selbstbestimmung gewahrt wird.

Wichtige Basis für den Erfolg der Digitalisierung sind Akzeptanz und Vertrauen der Nutzer. Denn Wandel kann nicht topdown erzwungen werden, die Nutzer müssen ihn wollen. Dazu müssen sie einen erlebbaren Nutzen davon haben. Bislang wird jedoch weder Vertrauen noch Akzeptanz eine große Beachtung geschenkt. Es geht allzu oft darum, Entscheidungen zu treffen, um sich dann damit zu rühmen, eine Entscheidung getroffen zu haben. Es mag im schwerfällig erscheinenden deutschen Gesundheitssystem gelegentlich sinnvoll sein, überhaupt etwas zu beschließen und so eine Entwicklung anzustoßen. Doch dieser im Grunde planlose Ansatz kann bei einem so gewaltigen Unterfangen wie der Digitalisierung allein keinen dauerhaften Erfolg bringen. Er blendet den gesellschaftlichen Zusammenhang, in dem Digitalisierung stattfindet, aus. Das führt zunächst einmal dazu, dass etliche Regelungen eher Symbolcharakter haben. Problematisch wird es, wenn eine politische Frist oder der Beschluss einer Regelung allem anderen übergeordnet wird und der eigentliche Nutzen plötzlich in den Hintergrund gerät. Manche Verfechter der Digitalisierung sollten sich deshalb die Frage stellen, woran ihnen eigentlich gelegen ist: der Einhaltung politisch gesetzter Termine zur Profilierung derjenigen, die sie einfordern? Oder müsste es nicht eigentlich um den Nutzen gehen, den die Digitalisierung für die Erfüllung gesundheits-, pflege- und versorgungspolitischer Ziele hat?

Bislang wirkt es so, als sei allzu oft Ersteres das Ziel und der Nutzen der Digitalisierung nur ein willkommener Begleiteffekt.

Das ist eigentlich auch nicht verwunderlich, denn seit Jahren fehlt eine Strategie, die die konsequente Ausrichtung der gesetzlichen Regelungen am Nutzen der Digitalisierung für die Anwender sicherstellt. Ohne Plan verkommt die Digitalisierung zum reinen Selbstzweck.

Doch Jens Spahn verweigert sich einer solchen Strategie nahezu und rühmt sich lieber mit einer „agilen Gesetzgebung“. Doch Agilität sollte nicht mit Planlosigkeit verwechselt werden.

Ein Beispiel für diese Planlosigkeit ist das völlig unzureichende Berechtigungsmanagement in der elektronischen Patientenakte (ePA), das eine vielversprechende Anwendung zur nutzlosen Attrappe macht. Dabei hätte es mit dem im November 2019 beschlossenen Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) durchaus eine Gelegenheit gegeben, Rücksicht auf die Bedürfnisse der Patienten zu nehmen. Nach den aktuellen Anforderungen der Gematik werden Patienten vor die Wahl gestellt, ihre Behandlungsdaten allen behandelnden Ärzten preiszugeben oder eben ganz auf die Nutzung der ePA zu verzichten. Das ist insbesondere für Patienten mit stigmatisierten Erkrankungen nicht hinnehmbar. Der Bundesgesundheitsminister begegnete Forderungen nach einer datenschutzfreundlicheren Berechtigungsfreigabe mit dem Argument, dass nichts zu Beginn perfekt sei und eine differenzierte Berechtigungsvergabe den Starttermin gefährde. Das macht sehr deutlich, worum es Spahn eigentlich geht: Für ihn ist das Projekt erfolgreich abgeschlossen, wenn der (politisch gesetzte) Termin eingehalten wird, und nicht, wenn die Patienten und die Behandler einen erfahrbaren Nutzen davon haben. Wer aber nicht weiter als bis zum nächsten feierlichen und medienwirksamen Projektabschluss denkt, kann weder Vertrauen noch Akzeptanz gewinnen. Es mag stimmen, dass ein differenzierteres Berechtigungsmanagement den Starttermin gefährden könnte und sich Versicherte noch einige Monate länger gedulden müssen. Doch der Nachteil dieser Verzögerung steht in keinem Verhältnis zu dem Schaden, der entsteht, wenn Patienten versehentlich Daten weitergeben oder keinen Nutzen in der Akte sehen, weil sie ihre Daten automatisch mit allen Ärzten teilen müssen.

Dieses Beispiel verdeutlicht auch, warum die Patientenbedürfnisse von Anfang an in den Vordergrund gestellt werden müssen und was passiert, wenn dies eben nicht getan wird. Unter gesellschaftlichen Gesichtspunkten sollte sich die Frage überhaupt nicht stellen, ob das Alles-oder-nichts- Prinzip als Übergangslösung funktionieren kann oder nicht. Es untergräbt schlicht und einfach das Vertrauen von Patienten in die ePA und gefährdet somit Akzeptanz.

Auch die Einführung der Telematikinfrastruktur (TI) lässt jegliches nachhaltige Changemanagement vermissen. Ärztinnen und Psychotherapeuten können nicht einfach mit Konnektoren und TI allein gelassen werden. Wer nur die Zahl der bereits angeschlossenen Praxen im Blick hat, übersieht, dass Leistungserbringer eine zentrale Rolle dabei haben, die Patienten von sinnvollen digitalen Anwendungen zu überzeugen. Die im November von „Süddeutscher Zeitung“ und NDR berichteten Sicherheitslücken in den Arztpraxen beschädigen das Vertrauen der Patienten. Es ist die Aufgabe von Minister Spahn, Rahmenbedingungen zu schaffen, die solche Sicherheitslücken nicht noch begünstigen. Ärzte und Psychotherapeuten benötigen die bestmögliche Unterstützung, um ihre Digitalkompetenz auszubauen. Nur mit einer Mentalität, die Datensicherheit so selbstverständlich werden lässt wie Händewaschen, lassen sich die Potenziale der Digitalisierung nutzen.

Letztlich muss klar werden, dass die Digitalisierung kein Selbstzweck ist. Sie muss den Patienten nutzen, sie und ihre Verbände müssen an der Ausgestaltung systematisch beteiligt sein. Das geht nur mit einer Strategie, die sicherstellt, dass sich alle Maßnahmen zur Digitalisierung konsequent an gesundheits-, pflege- und versorgungspolitischen Zielen ausrichten.

Diese Strategie ist als fortlaufender Prozess zu verstehen, der sich technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen anpasst. Eine gelungene Digitalisierung ist in einen gesellschaftlichen Rahmen gebettet und immer nur ein Instrument, um übergeordnete Ziele zu erreichen. Im Moment dient die Digitalisierung vor allem als PR-Instrument, und zwar demjenigen, der sie durchsetzt. Dabei werden aber all jene im Stich gelassen, die sich zu Recht wünschen, dass die Potenziale der Digitalisierung endlich auch bei allen Nutzern des Gesundheitssystems ankommen – allen voran den Patienten.

Maria Klein-Schmeink MdB (Jahrgang 1958) ist seit 2009 Mitglied des Deutschen Bundestages (Bündnis 90/Die Grünen) und seit 2013 gesundheitspolitische Sprecherin ihrer Fraktion. Zuvor war sie viele Jahre in leitender Position in der Erwachsenenbildung tätig und Wissenschaftliche Referentin der Landtagsfraktion der Grünen in Nordrhein-Westfalen (NRW). Die Soziologin mit Magisterabschluss blickt außerdem auf langjährige Erfahrung in der Kommunalpolitik ihrer Heimatstadt Münster zurück.