New Work: Die Pharmaindustrie erfindet sich neu
Flexible Arbeitszeiten und mobiles Arbeiten gehören in vielen Unternehmen längst zum Standard. In Produktionsbetrieben wie bei Pharmaunternehmen stoßen solche Modelle jedoch an ihre Grenzen – und erfordern spezielle Lösungen.
Von Annika Janßen
Was willst du wirklich, wirklich tun? Diese Frage ist der Kern der Theorie der „Neuen Arbeit“, englisch New Work, die der österreichisch-US-amerikanische Philosoph Frithjof Bergmann vor fast 40 Jahren entwickelte. Bergmann ging davon aus, dass sich Lohnarbeiter im Zeitalter von Automatisierung und Digitalisierung zunehmend mit der Frage beschäftigen könnten, welche Tätigkeit sie wirklich ausüben wollen und dann dank innovativer Technologien mehr Freiheit genießen würden.
Heute ist Bergmanns Konzept so aktuell wie nie. Die Arbeitswelt wandelt sich – Digitalisierung, Automatisierung und neue Führungskonzepte machen es möglich. Für viele Arbeitnehmer ist das Büro längst nicht mehr Dreh- und Angelpunkt ihres Arbeitsalltags, weil sie mit Smartphone und Laptop zu Hause oder unterwegs arbeiten können. Zugleich findet ein Wertewandel statt: Vor allem junge Mitarbeiter suchen einen Sinn in ihrer Arbeit, legen Wert auf ein erfülltes Privatleben. Neben netten Kollegen und interessanten Aufgaben sind flexible Arbeitszeiten deshalb für 65 Prozent der Angestellten wichtiger als das Gehalt, zeigt eine repräsentative Umfrage des Personaldienstleisters Manpower. Darum setzen immer mehr Unternehmen auf flexible Arbeitszeitmodelle. Selbst Führungskräfte verlassen das Büro frühzeitig, um ihre Kinder aus der Schule abzuholen – und werden dafür nicht schräg angeguckt.
BAYER Elemente von New Work finden sich in Unternehmen aller Branchen – auch im Gesundheitssektor. Büroangestellte beim Chemie- und Pharmakonzern Bayer etwa können meist arbeiten, wo sie wollen. Selbst Laboranten dürfen bestimmte Tätigkeiten mittlerweile im Homeoffice erledigen. Im Rahmen eines Experiments haben 40 freiwillige Mitarbeiter des Instituts für Medizinische Chemie am Bayer-Standort in Wuppertal-Aprath Erfahrungen gesammelt, ob sich bestimmte Tätigkeiten im Homeoffice erledigen lassen. Mit Erfolg: „Laborversuche finden natürlich allesamt in unseren Forschungszentren statt. Aber die Dokumentation und Auswertung von Versuchen beispielsweise lässt sich auch zu Hause erledigen“, erklärt Ralf Rademann, Personalmanager im Bereich HR Deutschland der Bayer AG. Deshalb gehört Homeoffice für Labormitarbeiter nun zum Angebot. „Solche Möglichkeiten steigern die Zufriedenheit, die Arbeitnehmer sind motivierter und produktiver. Das wiederum dient dem Unternehmen“, sagt Rademann: „Ich sehe nur Vorteile.“
Passende Lösungen für alle Mitarbeiter zu finden ist jedoch nicht immer einfach. In der Produktion zum Beispiel lassen sich flexible Arbeitszeiten nicht so leicht umsetzen wie im Büro. Fließbandarbeit im Homeoffice zu erledigen, ist unmöglich. So stoßen New-Work-Konzepte auch schon mal an ihre Grenzen – oder erfordern spezielle Lösungen. Schichttausch sei auch eine Form von flexiblem Arbeiten, sagt Bayer-Personalmanager Rademann. Er ist seit 38 Jahren im Unternehmen, hat jahrelang selbst in der Produktion gearbeitet. „Die Möglichkeit, Schichten zu tauschen, gab es immer, seit ich im Unternehmen bin. Die Vorgesetzten sind entsprechend offen und vertrauensvoll“, sagt er. Die Devise war stets: Solange alle Schichten besetzt sind und alle Arbeiten erledigt werden, können Mitarbeiter ihre Dienstzeiten frei untereinander tauschen. „Flexibles Arbeiten hat viel mit Selbstverantwortung zu tun“, weiß Rademann. Natürlich könne ein Produktionsmitarbeiter nicht zu Hause arbeiten oder das Werk für eine halbe Stunde verlassen, um einen Arzttermin wahrzunehmen: „Aber er kann seine Schichten so planen oder anpassen, dass es kein Problem ist, den Termin vor oder nach der Arbeit wahrzunehmen.“
CONTINENTAL Auch viele Industrieunternehmen bieten ihren Mitarbeitern mittlerweile ein hohes Maß an Freiheit und Flexibilität. Zum Beispiel Continental: Der Konzern hat im Jahr 2016 flexible Arbeitsbedingungen für alle Mitarbeiter weltweit eingeführt. Alle Mitarbeiter können ihren Arbeitsort frei wählen, also mobil arbeiten. Und sie haben die Möglichkeit, Teil- und Gleitzeit sowie eine berufliche Auszeit in Form eines Sabbaticals zu nehmen. Das Angebot beruht auf einer Vereinbarung mit dem Konzernbetriebsrat. „Continental erreicht damit weltweit mehr als 90 Prozent der Mitarbeiter quer über alle Hierarchieebenen“, erklärt das Unternehmen. Die Continental-Mitarbeiter sollen so Privat- und Berufsleben besser miteinander vereinbaren können und speziell Frauen soll eine Karriere mit Kind ermöglicht werden. Continental beschäftigt bereits heute einige Topmanagerinnen, die in Teilzeit arbeiten.
EVONIK Jürgen Pellens befasst sich schon lange mit der Flexibilisierung der Arbeitswelt. Er ist Fachexperte im Bereich Performance & Rewards beim Essener Chemiekonzern Evonik, sein Spezialgebiet ist das Thema Arbeitszeit. Er weiß: Wenn Mitarbeiter flexibel sind, sich ihre Arbeitszeit relativ frei einteilen können, sind sie motivierter – und zufriedener. „Studien zeigen das immer wieder, aber auch unsere Mitarbeiterbefragungen, die wir alle zwei bis drei Jahre durchführen“, sagt Pellens. Evonik horcht regelmäßig in die Belegschaft hinein und bezieht seine Mitarbeiter bei der Entwicklung moderner Arbeitszeitkonzepte ein. Der Konzern hat zum Beispiel sogenannte New-Work-Labs ins Leben gerufen, Erprobungsräume zum Testen neuer Arbeitsmodelle. Anregungen kommen zum Beispiel über das Intranet, werden in Workshops in Konzepte umgewandelt und schließlich ausprobiert. „Bei uns arbeiten immer mehr Mitarbeiter in Teilzeit, mobil oder im Homeoffice“, sagt Pellens. Standortübergreifende Besprechungen finden bei Evonik zunehmend per Videokonferenz statt. „Wir haben die entsprechenden technischen Voraussetzungen geschaffen und – noch wichtiger – schenken unseren Mitarbeitern das notwendige Vertrauen“, erklärt der Arbeitszeitexperte.
Evonik hat weltweit Standorte, die mehr als 32.000 Mitarbeiter sind in nahezu allen Zeitzonen aktiv. Das Unternehmen hat deshalb vor sechs Jahren für die deutschen Standorte beschlossen, dass die fast 15.000 Beschäftigten im Tagdienst zwischen 6 und 20 Uhr arbeiten können. Die Mitarbeiter können dann in Abstimmung mit ihrem Team entscheiden, wie sie ihre Stunden legen. „So können Mütter und Väter zum Beispiel früh Feierabend machen, sich nachmittags mit ihren Kindern beschäftigen und sich dann noch einmal abends an den Rechner setzen“, sagt Pellens.
Evonik ist mit seinen Arbeitszeitmodellen auf der Höhe der Zeit – aber: „Wir sind kein Dienstleistungsunternehmen, sondern ein Spezialchemiekonzern. Wir können unsere Produktionsanlagen nicht um 17 Uhr herunterfahren. Die Tages- und Nachtschichten müssen immer besetzt sein. Auch zum Beispiel die Werksfeuerwehren und ein Teil unserer Mechaniker, die für die Sicherheit der Anlagen verantwortlich sind, müssen rund um die Uhr einsatzbereit sein“, sagt Pellens. Für Schichtarbeiter sei vor allem eines wichtig: Planungssicherheit. „Sonst lässt sich das Privatleben nicht mit den teilweise sozial schwierigen Schichtzeiten vereinbaren.“ Flexibles Arbeiten wie im Büro sei so nicht möglich. Deshalb versucht Evonik, für seine Schichtarbeiter andere Formen von Flexibilität zu bieten: etwa indem bei der Dienstplanung Wünsche der Mitarbeiter und auch deren Chronotypen berücksichtigt werden. „Lerchen“ etwa kommen morgens gut aus dem Bett und sind vormittags am produktivsten – sie arbeiten eher in Frühschichten. „Eulen“ dagegen kommen mit Spät- und Nachtschichten besser zurecht. Das Ende der Fahnenstange sei mit solchen Maßnahmen noch nicht erreicht, sagt Pellens: „Die Entwicklung moderner Arbeitszeitmodelle für alle Mitarbeiter ist ein ständiger Prozess. Alles, was denkbar und diskutabel ist, schauen wir uns an.“ Seine Vision: Mitarbeiter sollen ihre Schichten einmal autark planen können.