Optimismus statt deutsche Apokalypse
Der Zukunftsforscher Dr. Daniel Dettling übt Selbstkritik an seiner Zunft, verurteilt aber auch apokalyptische Zukunftsphilosophen wie Richard David Precht. Dettling sieht in der Krise eine verpasste Chance für Solidarität und Eigenverantwortung, und hofft, dass Europa sich nun zur Gesundheitsunion entwickelt.
Interview: Stephan Balling
Herr Dr. Dettling, Deutschland, Europa, die Welt arbeiten im Pandemie-Modus: Was hat die Zukunftsforschung gelernt, wie hat die Krise sie verändert?
Dr. Daniel Dettling: Die große und berechtigte Frage lautet ja: Hätte unsere Zunft nicht wissen, vielleicht sogar prognostizieren müssen, dass so eine Pandemie droht? Es gibt ja seit vielen Jahren Warnungen, dass eine Pandemie möglich ist. Bill Gates beispielsweise hat dieses Szenario schon vor vielen Jahren als Gefahr benannt, auch das Robert Koch-Institut hat vor mehreren Jahren ein Szenario wie die aktuelle Pandemie beschrieben, mit mehreren Millionen Toten. Im Fall des Coronavirus gab es etliche Warnungen und Prognosen von Virologen, Thinktanks und Institutionen wie des Robert Koch-Instituts. Prognosen sind nicht schwierig, schwieriger ist unsere Reaktion auf diese. Lassen wir Szenarien an uns heran und mobilisieren Gegenkräfte und Ressourcen?
In Deutschland dominiert ja eigentlich gegenteiliges Denken, Stichwort „German Angst“. Eines der wichtigsten soziologischen Bücher der vergangenen Jahre trägt das Programm im Namen: Risikogesellschaft oder Weltrisikogesellschaft von Ulrich Beck, der 2015 verstorben ist.
Ulrich Beck war ein brillanter Soziologe, aber kein Zukunftsforscher. Zukunftsforschung begeht wie viele andere Disziplinen den Fehler, in linearen Trends zu denken und diese einfach fortzuschreiben. Risikoforschung geht differenzierter vor, da lässt sich sicher einiges lernen. Insofern kann jetzt tatsächlich die Stunde der kritisch-positiven Soziologen schlagen, die nüchtern und rational über Zukunfts- und Risikoszenarien diskutieren und dafür auch eine breite Öffentlichkeit gewinnen. Risiken sind bekanntlich Chancen mit Dornen. Wir dürfen dabei aber nicht in jenen Chor miteinstimmen, der nur noch risikoorientiert analysiert, dem alles zu gefährlich ist, ob Digitalisierung oder Kernenergie.
An wen denken Sie da?
Zukunftsdebatten werden stark von Historikern und Philosophen geprägt, denken Sie an Yuval Noah Harari oder Richard David Precht. Die tappen aber schnell in die Falle der Überbetonung von Risiken, denken Sie nur an die Horrorszenarien zum Thema künstliche Intelligenz, das Zusammenspiel von Maschinen und Menschen. Angst überlagert dann alles. Kritische Zukunftsoptimisten finden kaum noch Gehör. Sie gelten mit ihren nüchternen Analysen als zu langweilig, wenn sie beispielsweise darauf hinweisen, dass es seit dem Homo sapiens ein Zusammenspiel von Mensch und Maschine gibt.
Wie ordnen Sie Richard David Precht wissenschaftlich ein?
Wenn er sich über gesellschaftliche oder ökonomische Fragen äußert, ist das oft unwissenschaftlich. Seine Prophezeiungen des Untergangs erinnern eher an Religion als an faktenbasierte Analyse. Das verkauft sich leider gut. Ulrich Beck hat ja immer versucht, rational gegen diese Emotionalisierung der Diskussion zu argumentieren. Publizisten wie Precht denken oft in apokalyptischen Szenarien. Das setzt aber keinen Handlungsoptimismus frei und ist das Gegenteil von Wahlfreiheit. Im Gegenteil: Wenn der Klimawandel nicht mehr aufzuhalten ist, der Weltuntergang droht, dann kann ich mir heute doch noch einen SUV kaufen, das ändert ohnehin nichts mehr. Polemisch gesagt: Dass die Absatzzahlen für SUV von Rekord zu Rekord eilen, ist letztlich auch eine Folge der apokalyptischen Szenarien von „Fridays for Future“.
Jetzt klingen Sie selbst aber etwas fatalistisch.
Nein, es gilt der Satz von Winston Churchill: „Never waste a good crisis!“ Es gibt eine Sehnsucht nach positiven Sichtweisen. Das Zukunftsinstitut hat vier Szenarien für die Nach-Corona-Zeit entwickelt, zwei eher negative und zwei positive. Die wurden sehr breit diskutiert und in viele Sprachen über-setzt. Das macht Mut.
In welchen Alternativszenarien denken Sie jetzt?
Gesundheit wird künftig als öffentliches Gut eine entscheidende Rolle spielen. Das ist neu, bisher war Gesundheit in der Zukunftsforschung nicht das überragende Thema. Die Megathemen lauteten Klimaschutz, Digitalisierung, demografischer Wandel, Mobilität oder Urbanisierung. Gesundheit wird jetzt zum Knotenpunkt im Netz der Megatrends. Künftig geht es um gesunde Städte, achtsame Digitalisierung, mentales und soziales Wohlbefinden und geostrategisch um Gesundheitssicherheit.
Wie viel Wissenschaftlichkeit verträgt die politische Debatte?
Gesellschaften, die eher wissenschaftlich orientiert sind, in denen rational argumentiert wird, sind besser durch die Pandemie gekommen als Länder wie die USA oder Brasilien, in denen es an einer Verbindung von wissenschaftlicher und politischer Kommunikation und Legitimation fehlt.
Sie fühlen sich also gut regiert?
Mir kommen die Faktoren Vernunft und Eigenverantwortung in der Politik zu kurz. Dabei lässt sich doch viel erreichen, wenn wir auf die Vernunft der Bürger setzen. Anfang März, noch vor den rechtlichen Beschränkungen, dem ersten Lock-down, sind die Leute von sich aus zu Hause geblieben, haben ihre sozialen Kontakte reduziert. Das hat maßgeblich geholfen, das Schlimmste zu vermeiden.
Von so viel Eigenverantwortung traut sich nicht mal der FPD-Vorsitzende zu sprechen!
Erst als die Regierung detaillierte Vorgaben erlassen hat, kam der alte Reflex: Der Staat ist in der Verantwortung, der einzelne Bürger ist raus. Dabei weiß bei den meisten neuen Regeln doch niemand, ob diese wirklich wirken. Medizin soll evidenzbasiert agieren, aber wir wissen immer noch zu wenig über Corona und seine Verbreitung. Gegen eine Pandemie wie Corona hilft derzeit am besten der gesunde Menschenverstand.
Haben wir da eine Chance verpasst, Eigenverantwortung und Solidarität jenseits von staatlichen Vorgaben und Corona zu stärken?
Ja, und das ist höchst gefährlich. Manchmal ist eine Therapie gefährlicher als die Krankheit. Die Politik spricht nur noch über Gesundheitsschutz. Dabei geht es auch um Freiheiten, um wirtschaftliches Überleben, um Existenzängste und Depressionen. Die Regierenden stellen Gesundheitsschutz über alles, alle anderen Ziele – Berufs-, Bewegungs- und Bildungsfreiheit – stellen wir hinten an. Die Mahnung des Bundestagspräsidenten, dass Gesundheit nicht den obersten Wert in unserer Verfassung darstellt, sondern die Würde des Menschen, spielt kaum eine Rolle bei der Bewertung der Maß-nahmen.
Wie viel Eigenverantwortung trauen Sie den Bürgern zu, wenn es um Gesundheitsthemen geht?
Gesundheit wird immer stärker zum Statussymbol, erst recht nach Corona. Bestimmte Volkskrankheiten – Übergewicht, Bluthochdruck, Diabetes, Rauchen – steigern das Risiko für einen schweren Verlauf. Ein gutes Immunsystem dagegen sorgt für gesundheitliche Resilienz, sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene, und die lässt sich mit gesunder Ernährung, frischer Luft und zum Beispiel weniger Fleischkonsum erreichen.
Wie kann Politik diesen Trend befeuern?
Gesetzliche Krankenversicherungen könnten sich an Fitnessstudios beteiligen. Kommunen können öffentliche Freiluft- Fitnessanlagen bauen, diese sind in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern relativ rar. Sie sollten zur Selbstverständlichkeit werden, ebenso wie eine Parkbank. Auch der Zugang zu Trinkwasser ist wichtig. Kurz: Wir müssen den öffentlichen Raum gesundheitskompatibel gestalten.
Den Gesundheits-Trend haben längst die großen US-Tech-Giganten für sich entdeckt. Wo bleibt da in Zukunft der deutsche Landarzt?
Dem Landarzt wird es gehen wie einst dem Dorfbauern. Er wird weitgehend verschwinden. Verbünde, Genossenschaften und große Betriebe prägen längst den Agrarsektor, es gibt kaum noch Individualisten und Einzelkämpfer.
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Wie sieht die Zukunft der medizinischen Versorgung dann aus?
2050 werden 70 bis 80 Prozent der Ärzte weiblich sein. Die Bereitschaft zur Selbstständigkeit nimmt schon jetzt rapide ab, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird wichtiger. Ambulante Gesundheitszentren werden deshalb in Zukunft das medizinische Leistungsangebot prägen, ein Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) kann zum Beispiel der zentrale Anlaufpunkt für die Menschen in einem Umkreis von 50 bis 100 Kilometern sein. Je nach Entfernung stellt das dann selbstverständlich neue Anforderungen an den öffentlichen Personennahverkehr, an Taxis oder teilautonomes Fahren. Medizinische Check-ups und Erstkontakte erfolgen telemedizinisch, da die Menschen immer mehr technisches Gerät zu Hause oder am Körper haben.
Stichwort Telemedizin: Wird es 2050 die Telematik-Infrastruk-tur noch geben, die 2021 richtig starten soll?
Die digitale Revolution hat bereits begonnen. Aber mit der Datenschutz-Grundverordnung haben wir in Europa sehr gute Startbedingungen, ich bin überzeugt, dass die DSGVO zu einem Wettbewerbsvorteil führt. Zugleich brauchen wir aber eine neue Sicht auf das Thema Datenschutz. Warum sollte es nicht möglich sein, freiwillig zuzustimmen, dass die Gesundheitsämter auf meine Corona-Warn-App zugreifen dürfen? Datenschutz darf nicht zum Gegenteil von Digitalisierung werden.
Hat Europa nicht längst den digitalen Anschluss verloren?
Wir durchlaufen einen fundamentalen Strukturwandel, in dem die Digitalisierung noch schneller zum großen Gewinner wird. Es wird einige Branchen stark erwischen, den Mobilitätssektor mit Luftfahrt und Autoindustrie etwa oder den stationären Einzelhandel. Dort drohen massive Arbeitsplatzverluste. Die Ursache dafür heißt aber nicht Corona. Diese Trends zeichnen sich schon seit einigen Jahren ab. Sie führen zu einer Spaltung der Gesellschaft in wenige Gewinner und viele Verlierer.
Jetzt sind Sie aber apokalyptisch!
Nein, ich bin Realist! Ich sehe durchaus, dass die Kaufhof-Gruppe das Thema Digitalisierung jetzt massiv aufnimmt, da ist Corona sicher ein Auslöser. Mit der Otto-Gruppe hat Deutschland einen vollständig digitalisierten Einzelhändler, der es durchaus mit Amazon aufnehmen kann.
Das ändert aber nichts an der von Ihnen beschriebenen Spaltung der Gesellschaft in digitale Gewinner und analoge Verlierer.
Das stimmt, aber auch hier bleibt die Frage der Handlungsmöglichkeiten. Ich erinnere an das Steuermodell, das Siemens-Chef Joe Kaeser vor einigen Jahren in die Diskussion geworfen hat. Demnach sollen Unternehmen, die keinen gesellschaftlichen Mehrwert generieren, mehr Steuern zahlen als jene mit vielen Mitarbeitern. Andere, wie Airbnb, Uber und Amazon, die keine eigenen großen Belegschaften haben, müssten dann entsprechend mehr Steuern zahlen. Die Europäische Union ist stark genug eine Digitalisierungssteuer umzusetzen. Leider hat die europäische Idee in der Krise stark gelitten.
Inwiefern?
Europas Sündenfall in der Corona-Krise war, dass es zugelassen hat, dass chinesische Hilfe in Bergamo gelandet ist. Diese Bilder haben das anfängliche Versagen Europas vor Augen geführt, und das nagt bis heute am Selbstbewusstsein der EU. Doch auch hier habe ich die Hoffnung, dass Europa lernt. Europa ist auf dem Weg zur Gesundheitsunion. Corona hat gezeigt, dass die Nationalstaaten allein mit einer Pandemie überfordert sind. Die gemeinsame Beschaffung von Schutzausrüstung beispielsweise, der Austausch von Intensivbetten und mehr Pflegefachkräfte gehören auf die EU-Agenda.
Schlägt in der Pandemie die Stunde des Zentralismus, selbst Bayerns Ministerpräsident Söder will mehr Kompetenzen für den Bund?
Wir brauchen beides: mehr Europa, aber auch die Stärkung dezentraler Strukturen. Rein zentralistische Staaten wie Großbritannien sind bei der Bekämpfung der aktuellen Pandemie ebenso überfordert wie rein föderale wie die Schweiz.
Sie wollen künftig neben Möglichkeiten stärker auch Gefahren in Ihren Analysen benennen. Welche Gefahr sehen Sie für Europa?
Die Gefahr der autoritären Versuchung, vor der selbst die Gründerdemokratien nicht immun ist. Sind illiberale, populistische und autoritäre Systeme erfolgreicher in puncto Pandemie-Bekämpfung oder sind es liberale Demokratien? Wenn wir in zentralen Überlebensfragen wie dem Klimawandel oder einer Gesundheitskatastrophe sofort den Notstand ausrufen und mit Verordnungen regieren, ist die Demokratie am Ende. Europa muss jetzt den nächsten Schritt wagen, zur sanften Supermacht (soft power) werden und zeigen, dass es die Herausforderungen unserer Zeit besser lösen kann als andere Modelle.
Dr. Daniel Dettling vertritt als Politik- und Kommunikationsberater das 1998 von Matthias Horx gegründete Zukunftsinstitut in Berlin. Sein jüngstes Buch „Zukunftsintelligenz. Der Corona-Effekt auf unser Leben“ landete auf der Shortlist der Handelsblatt-Empfehlungen für die Sachbücher des Sommers.