Process Mining: Eingriff am Prozess
Process Mining und KI-gestützte Prozessoptimierung erobern deutsche Unternehmen. Die Technik stammt von einem deutschen Einhorn. Am Klinikum Braunschweig kommt sie nun zum Einsatz. Das Ziel sind abgestimmte Prozesse, zufriedene Patienten und kürzere Verweildauern.
Von Dr. Stephan Balling
Im internationalen Vergleich liegen die Deutschen ziemlich lange im Krankenhaus. Das liegt nicht nur daran, dass sie relativ oft ins Krankenhaus gehen, Deutschland also eine höhere Fallzahl als viele andere Länder aufweist, sondern auch bei jedem Aufenthalt im Durchschnitt länger dort bleiben. Die Bundesrepublik kommt auf vergleichsweise lange Verweildauern im Krankenhaus. Ursache sind zum einen Schnittstellenprobleme zwischen den Leistungserbringern, etwa zwischen Krankenhaus und ambulant tätigen Ärzten, Pflegediensten oder Reha-Anbietern. Zum anderen sorgen auch innerhalb der Krankenhäuser nicht abgestimmte Prozesse, Schnittstellenprobleme und Kommunikationsdefizite häufig dafür, dass die stationäre Behandlung oftmals nicht rund läuft, Patienten auf ihrem Pfad durchs Krankenhaus viele Umwege nehmen und Schleifen drehen müssen. Das bindet Personal, sorgt für Unzufriedenheit bei den Patienten und kostet Klinken unnötig viel Geld.
„Von kürzeren Verweildauern und klar strukturierten Prozessen profitieren am Ende alle“, sagt Prof. Dr. Matthias P. Heintzen, Chefarzt der Kardiologie am Klinikum Braunschweig, und erklärt weiter: „Wenn wir es schaffen, die Prozesse so zu gestalten, dass der Großteil der Patienten kürzere Zeit im Krankenhaus verbringen muss, dann können sich unsere Mitarbeiter besser auf die wirklich komplexen Fälle konzentrieren.“ Obendrein wachse aber auch die Zufriedenheit der Patienten, wenn sie vor ihrem Aufenthalt einen klaren Fahrplan für ihren Weg durchs Krankenhaus bekämen, der dann auch eingehalten werde und auf den sie sich verlassen könnten. „Zufriedene Patienten sind einfachere Patienten, das entlastet unsere Mitarbeiter weiter und noch dazu sinken die Kosten“, sagt Heintzen.
Doch wie lässt sich das erreichen? Das Klinikum Braunschweig setzt seit Kurzem ein Werkzeug ein, das auch viele Industrieunternehmen wie Roche, Merck oder Siemens immer stärker nutzen: Process Mining, die Analyse interner Prozesse und Schnittstellen mittels Daten und künstlicher Intelligenz (KI). Angesichts der Komplexität eines Maximalversorgers mit mehr als 4.000 Mitarbeitern ist es kaum möglich, sämtliche Prozesse anhand von Entscheidungswegen und Patientenpfaden grafisch abzubilden und dabei eine interpretierbare Übersicht zu erhalten. Zu vielfältig sind die möglichen Wege eines Patienten, zu umfangreich die Knotenpunkte, zu komplex die vielen Schnittstellen zwischen primären, sekundären und tertiären Bereichen, zwischen Ärzten, Pflege und unterstützenden Bereichen. Von Fachbereich zu Fachbereich, von Klinik zu Klinik herrschen in einem Krankenhaus oft unterschiedliche Prozesse, die nicht selten kaum aufeinander abgestimmt sind. Wenn dann noch unvorhersehbare Ereignisse dazukommen, überblickt kaum noch jemand das Zusammenspiel der Akteure und die Prozesse sowie deren Wechselwirkungen.
Es genügt folglich nicht, wie im klassischen Prozessmanagement die Abläufe einfach grafisch darzustellen. In der komplexen Krankenhausstruktur führt dieser Ansatz kaum zu Erkenntnissen.
„Da kommt die künstliche Intelligenz ins Spiel, die es ermöglicht, die Visualisierung auf die wichtigsten Prozesse und Ereignisse zu reduzieren“, erklärt Nils Wittig, Chief Experience Officer (CXO) bei KMS. Das Münchner Datenanalyseunternehmen baut vor allem Data-Warehouse-Systeme für Krankenhäuser. Den darin vorhandenen Datenschatz will es nun heben, um Schwachstellen in den Prozessen seiner Kunden zu identifizieren und zu helfen, die Qualität der Abläufe und die Verlässlichkeit für die Patienten auf ihrem Weg durchs Krankenhaus zu steigern sowie Effizienzgewinne zu generieren. Es nutzt dabei die Technik eines deutschen Unternehmens, das erst 2011 gegründet wurde und trotzdem schon mit mehr als einer Milliarde Euro bewertet wird. Das Münchner Unternehmen Celonis schreibt seit seiner Gründung schwarze Zahlen und gehört zu den wenigen deutschen Einhörnern.
Wittig öffnet seinen Computer und zeigt nacheinander zwei verschiedene Ansichten, die er aus der Process-Mining-Software generiert hat. Zunächst erscheinen unzählige dünne Linien, verbunden an dünnen Knotenpunkten, das sind die bestehenden Prozesse der Kardiologie am Klinikum Braunschweig, ohne KI-Filter. „Und das hier ist die auf das Wesentliche reduzierte Visualisierung“, kündigt Wittig an, ein Klick, und die Anzahl der Linien und Knotenpunkte schrumpft rapide, nun sind nur noch wenige Linien zu sehen, die dafür deutlich dicker sind. Diese zeigen stark vereinfacht den Patientenpfad einer Herzkatheteruntersuchung. „Die künstliche Intelligenz hat die typischen Patientenpfade errechnet und wie lange sie dauern“, sagt Wittig und erklärt weiter: „Nun können wir überlegen, wie der Patientenpfad optimal verlaufen kann und Schlüsse für bessere Prozesse ziehen, sodass am Ende die Verweildauer sinkt.“
„Ein mächtiges Tool“, sieht folglich Krankenhaus-Geschäftsführer Dr. Andreas Goepfert in der daten- und KI-basierten Prozessanalyse. Das Ziel müsse dabei immer sein, schnellstmöglich die richtige Diagnose zu erlangen, um den Patienten so früh wie möglich auch richtig therapieren zu können. Das Patientenwohl stehe immer an erster Stelle, betont er.
Gelänge es Krankenhäusern wie dem Klinikum Braunschweig, die internen Abläufe zu verbessern und damit die durchschnittliche Verweildauer der Patienten zu senken, reduzierten sich zusätzlich aber auch die Kosten für das einzelne Haus bei zunächst gleichbleibenden Erträgen, weil die Fallpauschalen pro Behandlung nicht sänken. Ergo blieben auch höhere Margen für die einzelne Behandlung. Geschäftsführer und Chefarzt des Klinikums betonen allerdings, dass sie diesen Punkt als erfreuliches Nebenprodukt sehen. Im Zentrum stünden eine bessere Patientenversorgung und zufriedenere Mitarbeiter.
Langfristig würde von der Technik jedenfalls das gesamte Gesundheitssystem profitieren, denn es kalkuliert die Preise auf Basis von Durchschnittskosten in den Krankenhäusern. Höhere Margen sinken im System der Fallpauschalen, wenn mehr Kliniken kostengünstiger arbeiten. Damit würde die Technik der gesamten Volkswirtschaft nutzen, das deutsche Gesundheitssystem würde insgesamt effizienter. Das würde sich wiederum nicht nur in monetären Daten manifestieren, sondern könnte auch den Fachkräftemangel entschärfen, Stichworte Ärztemangel und Pflegenotstand, wenn das Personal im Krankenhaus dank besserer Prozesse entlastet wird.
Allein in seinem Fachbereich sieht Kardiologie-Direktor Heintzen enormes Potenzial: „Wir können die Verweildauer in der Angiografie im Durchschnitt um ein bis zwei Tage senken, wenn der Prozess glatt läuft.“ Was die Datenanalyse ergeben habe: Patienten kommen zu oft ins Krankenhaus ohne ausreichende Voruntersuchungen und Befunde. Die müssen dann im Krankenhaus erfolgen, weshalb die Patienten zwei bis drei Nächte stationär bleiben müssen und Betten belegen. Laut der Analyse kann der Prozess zwischen Aufnahme und Entlassung statt der 29 Stunden, die möglich wären, bis zu 75 Stunden dauern, wenn beispielsweise radiologische Untersuchungen bei der Aufnahme des Patienten noch nicht vorliegen.
„Wir nehmen die Voruntersuchungen nun ein bis zwei Tage vor der Angiografie ambulant vor oder erbitten bestenfalls die einweisenden Ärzte, die entsprechende Diagnostik vorzunehmen“, erklärt Heintzen. Wenn dann der Patient am Morgen der Untersuchung, also des angiografischen Eingriffs, mit sämtlichen nötigen Befunden der Voruntersuchungen im Krankenhaus erscheine, könne die Herzkatheter-Untersuchung sofort erfolgen, der Patient müsse nur eine Nacht zur Beobachtung bleiben und könne am nächsten Morgen entlassen werden.
Chefarzt Heintzen und Geschäftsführer Goepfert sind sich einig, dass im Process Mining gewaltiges Potenzial liegt, aber auch die Pflege hofft auf Verbesserungen. „Wir haben nun am Tag der geplanten Angiografie mehr Zeit, weil wir nicht mehr kurzfristig Voruntersuchungen organisieren und Eingriffe verschieben müssen“, berichtet Jörg Sengpiel, Pfleger in der Kardiologie des Klinikums Braunschweig. „Das alleine ist ein großer Gewinn.“ Krankenhausgeschäftsführer Goepfert ergänzt: „Ziel ist ein möglichst unkomplizierter und verlässlicher Weg für den Patienten durch das Krankenhaus.“
Doch wie hoch ist das Potenzial von KI in der Krankenhaussteuerung wirklich, wie stark kann damit die Effizienz der Prozesse am Ende gesteigert werden und das deutsche Gesundheitssystem insgesamt gewinnen? „Wir haben mit einem im Grunde sehr einfachen Prozess angefangen und uns auf eine DRG konzentriert“, gesteht Geschäftsführer Goepfert zu. „Aber wenn wir es sukzessive schaffen, bei elektiven Eingriffen klare und verlässliche Abläufe hinzubekommen, dann ist das ein großer Erfolg.“ Die Notfallmedizin sei dann eine weitere „spannende Aufgabe“, wie es Chefarzt Heintzen formuliert.
Goepfert verweist dabei auch auf die Wirbelsäulen-Chirurgie: „Darauf wären wir nie so schnell gekommen, aber bei Bandscheiben-Operationen liegt ein Nadelöhr in der Physiotherapie“, berichtet Goepfert. Erfolge die Physiotherapie zeitnah vor und nach der Operation, könne sich der Aufenthalt des Patienten im Krankenhaus verkürzen. „Wir wollen auch hier einen glatten Verlauf ohne Wartezeiten, das würde ebenfalls zu kürzeren Verweildauern führen, weshalb wir jetzt gezielt in die Physiotherapie investieren“, berichtet der Klinikgeschäftsführer.
Einsparungen sind das eine, aber Software kostet immer auch Geld, oftmals verschlingt sie gewaltige Beträge. Je nach Größe müsse ein Krankenhaus mit einem unteren bis mittleren fünfstelligen Betrag rechnen, um in das Thema einzusteigen, sagt KMS-CXO Wittig. Krankenhausgeschäftsführer Goepfert ist fest überzeugt, dass sich diese Investition am Ende lohnt. Gemeinsam mit seinem Chefarzt rechnet er vor, dass alleine die sogenannten „Hotelkosten“ pro Patient, Bett und Tag im Krankenhaus 200 Euro betragen. Gelänge es, die Verweildauer bei 750 Fällen im Jahr um durchschnittlich einen Tag zu verkürzen, spare dies in der Kardiologie pro Jahr rund 150.000 Euro an Kosten. Der tatsächliche Erfolg lasse sich mit der Software auch jederzeit überprüfen, im Echtzeit-Controlling sozusagen. Voraussetzung: saubere Daten!
Die habe das Klinikum, sagt Lars Anwand, Geschäftsbereichsleiter Medizinische Leistungen am Klinikum Braunschweig. Anwand verweist auf das schon länger etablierte Data-Warehouse-System. Hier ruhe ein gewaltiger Schatz an Informationen, den es zu heben, oder um im Wording des Process Mining zu bleiben, sukzessive zu schürfen gelte. Stehe die Data-Warehouse-Infrastruktur, die auf das Krankenhausinformationssystem (KIS) mit seinen Subsystemen und Vernetzungen etwa auf die Buchhaltung zugreift, auf dem aktuellen technischen Stand, bleibe der Aufwand, um mittels Process Mining Potenziale für Ablaufverbesserungen zu identifizieren, überschaubar. Kürzere Verweildauern und ambulantes Potenzial ließen sich so identifizieren. Am Ende profitieren die Patienten: Sie werden schneller richtig therapiert, müssen weniger lang im Krankenhaus liegen, können rascher nach Hause.