Rising Stars im Healthcare-Universum
Unternehmen kommt es vor allem auf Erfahrung an, wenn sie einen neuen Topmanager suchen. Dabei offenbart eine aktuelle Studie, dass Newcomer oft die erfolgreicheren CEOs sind. Wie offen ist die Gesundheitsbranche für Rising Stars?
von Anne Hünninghaus
Ulf Mark Schneider gilt als Macher und Innovator. Seit 2017 leitet er die Geschicke des Lebensmittelkonzerns Nestlé, für ihn ist das der zweite CEO-Job. Als „Deutschlands jüngster Dax-CEO“ machte er 2003 Schlagzeilen. Damals war Schneider gerade mal 37 Jahre alt und stand an der Spitze des Gesundheitskonzerns Fresenius. In 13 Jahren auf dem Posten wies der Manager eine beachtliche Bilanz auf, baute die Gruppe mit Milliardenzukäufen um und intensivierte das Auslandsgeschäft kräftig. Seine Erfolge brachten dem Konzern und ihm selbst ein hohes Renommee ein; die Erwartungen bei Nestlé unter seiner Führung sind entsprechend hoch.
Dass Schneider schon in sehr jungen Jahren an die Firmen-Spitze rückte, ist in Deutschland eher die Ausnahme. Das Durchschnittsalter deutscher CEOs liegt bei 53. Laut einer Analyse von Databyte im Auftrag des Magazins „Bilanz“ stellte die Altersgruppe der 50- bis 80-Jährigen 2019 sogar knapp doppelt so viele Geschäftsführer wie die Gruppe der 18- bis 49-Jährigen. Erfahrung ist bei der Auswahl von Führungspersonal offensichtlich das Maß aller Dinge.
Doch allein auf Routine zu vertrauen könnte eine Fehleinschätzung sein, legt eine aktuelle Studie der amerikanischen Personalberatung Spencer Stuart nahe. Deren Ergebnis: Frischgebackene CEOs agieren im Schnitt erfolgreicher als „alte Hasen“, die bereits woanders die Geschäfte geführt haben. Spencer Stuart wertete die Performance von 885 Topmanagern börsennotierter US-Unternehmen über einen Zeitraum von 20 Jahren aus. Die CEO-„First-Timers“ agierten im Durchschnitt erfolgreicher, was sich an höheren marktbereinigten Renditen ablesen lies. Geschäftsführer, die diese Position bereits zweimal innehatten, schnitten in 70 Prozent der Fälle im ersten Unternehmen besser ab.
Für diesen erstaunlichen Effekt haben die Studienautoren eine Erklärung parat: Zwar verfügten CEOs mit Vorerfahrung meist über profundere Expertise, ein stärkeres Netzwerk und einen breiteren Zugang zu externen Ressourcen. Das verschafft ihnen besonders beim Start im neuen Unternehmen einen Vorteil. Auf mittlere und lange Sicht schneiden aber die Newcomer besser ab. Sie sind weniger festgefahren und tappen nicht in die Falle, in der neuen Umgebung auf ihr strategisches Standardrepertoire, das sogenannte Playbook, zurückzugreifen. „Unsere Untersuchung zeigt, dass sich die längerfristige Orientierung und der ausgewogenere Fokus zwischen Profitabilität und Umsatzwachstum der First-Time-CEOs in ihrer Leistung widerspiegelt“, schreibt die Beratung. Mit fortschreitender Amtszeit gelingt es ihnen demnach, Innovation und operative Effektivität gleichzeitig zu steigern.
Hannes Sommer hat die Studie mit Interesse gelesen. Der Chef der Personalvermittlung Sinceritas, die auf das Klinik- und Pharmawesen spezialisiert ist, weiß: Hierzulande kommen vor allem die „alten Hasen“ zum Zug, wenn Chefposten neu besetzt werden. „In der Branche haben 70 bis 80 Prozent der Geschäftsführer vorher eine vergleichbare Position anderswo bekleidet“, schätzt er. Gerade wenn Krankenhäuser eine neue Leitung suchen und sich an Sommer wenden, ist CEO-Vorerfahrung Priorität Nummer eins – vor allen anderen Kompetenzen und Qualifikationen. Eine Ausnahme stellen hier die privaten Klinikketten dar, die auch regelmäßig Geschäftsführer ohne vorherige CEO-Erfahrung einsetzen.
Der ehemalige McKinsey-Berater kann die Folgerungen aus der Studie durchaus nachvollziehen. Gerade bei Krankenhäusern sei Erfahrung jedoch deshalb so essenziell, weil die Herausforderungen und Probleme vergleichbar seien – anders als bei den untersuchten börsennotierten US-Unternehmen. „Kommen ausreichend Patienten? Sind wir finanziell und personell solide aufgestellt? Bieten wir das richtige Leistungsspektrum an, um dauerhaft profitabel zu bleiben?“ Das „Playbook“ hat angesichts der immer gleichen Fragen hohen Marktwert. „Dass ein großer Maximalversorger plötzlich einen 27-jährigen Rookie als CEO rekrutiert, wird kaum passieren“, sagt Sommer. Auch wenn sich die Kultur in den einzelnen Häusern unterscheiden mag, es gelte: Wer in Deutschland einmal erfolgreich ein Krankenhaus gemanagt hat, schafft das in der Regel anderswo auch.
Die 30 Prozent ohne CEO-Vorerfahrung sind daher entweder Eigengewächse, die sich im Unternehmen hochgearbeitet haben. Oder der Anwärter mausert sich aus der Führungsriege eines kleinen kommunalen Hauses zum Chef des nächstgrößeren. Rund alle fünf bis zehn Jahre gibt es einen Austausch der Spitze und das Karussell dreht sich weiter.
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Alternativ kommen die künftigen Führungspersönlichkeiten aus den Kaderschmieden der Privatkliniken, in denen sie spezielle Managementprogramme durchlaufen haben. Hier gewinnen sie allerdings eher das operative als das strategische Know-how, sagt Sommer: „Das ist im Prinzip Malen nach Zahlen“. Dennoch haben die Newcomer gute Chancen, in eine Leitungsposition vermittelt zu werden, wenn sie ambitioniert und belastbar sind und das Handwerkszeug verinnerlicht haben, findet der Recruiter.
„Unkonventionelle und junge CEOs wären wünschenswert, gerade in Zeiten der Transformation. Aber dieser Sektor ist ein regulatorisch eingegrenzter Raum, anders als beispielsweise die Tech-Industrie“, sagt Sommer. „Und solange die Bedingungen nicht flexibler sind, wird es keinen Elon Musk an der Spitze geben.“ Da sei es schon beeindruckend, wenn der neue CEO zuvor Erfahrung darin gewonnen habe, mit Erfolg ein neues Krankenhaus-IT-System einzuführen.
Auch im Pharmabereich geben sich die CEOs innerhalb eines kleinen Zirkels die Klinke in die Hand. Vertreter der obersten Führungsriege wechseln oft von einem der einschlägigen Konzerne zum anderen. Ansonsten wird CEO am ehesten jemand, der vorher beispielsweise die Strategieabteilung im Haus geleitet hat. Auch hier stecken regulatorische Besonderheiten hinter der eher konventionellen Auslese.
Der Personalberater erkennt aber zumindest einen kleinen Shift in Richtung Offenheit innerhalb der Branche. „Bestenfalls ist es immer eine Kombination aus beidem: frischem Denken und Expertise, was unser komplexes Gesundheitssystem anbelangt.“ Neben innovativen Spielern ist dafür aber erforderlich, dass die Spielregeln sich lockern. Und hier liegt der Ball im politischen Feld. Der Bedarf an Problemlösern mit Schwung und Innovationskraft wächst jedenfalls in einer sich wandelnden Branche.
So hat die Boston Consulting Group im vergangenen Jahr unter dem Einfluss der Coronakrise eine Studie zu Führungsqualitäten von CEOs in Transformationsprozessen veröffentlicht. Vor allem gefordert sind nach Auswertung von 750 Unternehmensbeispielen der Mut, neue Wege einzuschlagen, die Flexibilität, sich an veränderte Erfordernisse anzupassen und die Fähigkeit, andere mit einem starken Narrativ von neuen Ideen zu überzeugen und mitzureißen. Hier dürfte der Punkt also an die Rookies gehen. Tatsächlich könne ein neuer CEO die Chancen für eine erfolgreiche Transformation im Durchschnitt um sieben Prozentpunkte erhöhen, heißt es. Das liege daran, dass sie einen Blick von außen auf das Unternehmen werfen und eher bereit sind, etablierte Denkweisen auf den Kopf zu stellen.
Natürlich gehen auch ältere und erfahrene Führungspersönlichkeiten teils so vor – dennoch zeigen verschiedene Studien, dass eine größere personelle Bandbreite, unter anderem was die Altersstruktur betrifft, die Innovationskraft und damit den Erfolg von Unternehmen zusätzlich befeuern kann.
Und es gibt noch Personalabteilungen und Vorstände, die sich was trauen: Die jüngste Klinikmanagerin der Paracelsus-Klinik-Gruppe ist zum Beispiel seit Januar dieses Jahres im Amt. Im Alter von 29 Jahren übernahm Melina Jürgensen in diesen bewegten Zeiten die Leitung des Münchener Standorts, nachdem die studierte Betriebswirtin die Klinik vorher zwei Monate lang kommissarisch geführt hatte. Diese Besetzung hebt sich sogar in zweifacher Hinsicht ab: Denn nicht nur Rookies sind im Gesundheitsmarkt in der obersten Führungsriege selten, sondern auch Frauen.