Sechs Thesen zum Innovationsbedarf im Gesundheitswesen
Seit Ausbruch der Pandemie hat die Gesundheitswirtschaft große Flexibilität bewiesen. Doch zu echter Innovationsfähigkeit fehlen noch ein paar Zutaten. Unser Autor zeigt gleich sechs von ihnen auf und sieht eine neue Rolle auf den Innovationsfonds zukommen.
von Roland Engehausen
Ein Blick auf die aktuelle Corona-Lage, als Brennglas für die Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens, zeigt recht klar: In kaum einem anderen Land mit vergleichbarer Größe und vergleichbar vielen Infizierungen war das Gesundheitswesen so stabil. Allerdings kam auch das deutsche Gesundheitswesen in dieser Zeit nicht um zusätzliche Finanzmittel herum. Bereits jetzt ist aber klar und ebenso erstaunlich: Während die konkreten Therapiekosten der Covid-19-Behandlung für die Krankenkassen kaum zu Buche schlagen, wurden erhebliche Mittel zur systematischen Stärkung des Gesundheitswesens aufgebracht – auch vorsorglich. Gleichzeitig wurde ein hohes Finanzvolumen zum Ausgleich von Umsatz- und Einkommensausfällen durch vermiedene Behandlungen im großen Umfang vom Staat über Steuermittel und von den Krankenkassen aus Beitragsmitteln zur Verfügung gestellt. Ursächlich für die vergleichsweise gute Bewährung des deutschen Gesundheitswesens bei der Bewältigung der Covid-19-Behandlungen dürfte – neben einiger glücklicher Umstände und einer insgesamt guten Gesundheitslage in der Bevölkerung – auch gewesen sein, dass es in Deutschland vergleichsweise viele Kapazitäten in der stationären Versorgung und Intensivmedizin sowie eine stabile ambulante Versorgung gibt. Die gesundheitsökonomisch oft kritisierten kleinteiligen Strukturen mit vielen kleineren Krankenhäusern und einer doppelten Facharztschiene mit fachärztlichen Strukturen sowohl ambulant als auch stationär hat sich in der Corona-Krise auf zweierlei Hinsicht als nützlich erwiesen. Einerseits war durch die ambulanten fachärztlichen Strukturen das Schaffen von Freiräumen im stationären Bereich recht einfach möglich, ohne dass Behandlungen völlig ausgesetzt werden mussten.
Die Corona-Lage zeigt eine hohe Flexibilität des Gesundheitssystems und gleichzeitig im Normalbetrieb auch eine gewisse Anfälligkeit von angebotsinduzierter Nachfrage über den erforderlichen Bedarf hinaus. Darüber dürfte nach den Erfahrungen mit deutlichen Behandlungsrückgängen im Gesundheitswesen intensiv diskutiert werden. Ebenso wird sichtbar, dass es dem deutschen Gesundheitswesen im Normalbetrieb so gut geht oder die Leidensfähigkeit so hoch ist, dass es erst einer Krise bedarf, um an bekanntermaßen mühevollen Abläufen wesentliche Dinge zu ändern. So wurde ein deutlicher Ausbau der digitalen Konsultation kurzfristig möglich. Gleichzeitig wurden viele Instrumente der Qualitäts- und Kostensteuerung außer Kraft gesetzt, die in der Krise als störende Bürokratie vermieden werden sollten. Dazu zählen auch die gerade erst sehr detailliert und kleinteilig eingeführten Pflegepersonaluntergrenzen im stationären Krankenhaus-Sektor und die dazu erforderlichen Dokumentationen, woraus die Deutsche Krankenhausgesellschaft bereits im Positionspapier „Lehren aus der Pandemie“ unter anderem abgeleitet hat, dass es auch im Normalbetrieb dieser Überregulierung nicht bedarf.
Es folgten nicht nur ein konsequenter Lockdown, umfassende Kontakt- und Versammlungsverbote sowie ein schneller Aufbau weiterer Intensiv-Kapazitäten. Sondern auch für die wohl meisten Kenner im Gesundheitswesen kaum vorstellbare Sonderregelungen wie Förderung der Telemedizin, umfassender Verzicht auf Qualitäts- und Kostenprüfungen und viele Dokumentationen, wie zum Beispiel zu den DMP-Programmen, um Ärzten, Pflegekräften, Kliniken, Therapeuten und Apothekern die Arbeit zu erleichtern sowie umfassende finanzielle Soforthilfen und Investitionsförderungen. Der Gemeinsame Bundesausschuss änderte seine Verfahrensordnung, um im schriftlichen Abstimmungsverfahren betroffene Richtlinien rasch – befristet – ändern zu können. Entscheidungen, die ansonsten Wochen, Monate oder sogar Jahre benötigt hätten, wurden im Stundentakt gefällt.
Auch die Krankenkassen haben dabei eine neue Rolle eingenommen. Aussagen wie „wir halten dem Gesundheitswesen den Rücken frei“ oder „wir spannen einen Schutzschirm“ wurden nahezu selbstverständlich von vielen Verantwortlichen auf der Kostenträgerseite formuliert. Besonders flexibel haben sich die Kliniken gezeigt, die nicht nur schnell Intensiv-Kapazitäten aufgebaut haben, sondern in einem kaum vorher als möglich erachteten Ausmaß planbare Operationen heruntergefahren haben. Allein bei der IKK Südwest ging die Zahl aller Krankenhausbehandlungen zeitweilig um etwa 40 Prozent zurück. Dabei war es richtig, dass die Kliniken für jedes frei gehaltene Bett eine Tagespauschale erhalten haben, die zunächst einheitlich auf 560 Euro festgelegt wurde und dann später in einem zwischenzeitlich gebildeten Expertenbeirat auf eine gestufte Höhe je nach Case-Mix-Index abgeändert wurde.
Doch mit zunehmender Fortdauer wurde der Wunsch der etablierten Akteure nach Rückkehr in die Normalität und damit auch Planbarkeit und Beherrschbarkeit deutlich spürbarer. So wurde etwa die telefonische Krankschreibung zwar verlängert, lief aber dann nach wenigen Wochen aus und wurde nur kurzfristig lokal für Gütersloh aufgrund des regionalen Ausbruches aktiviert. Es bleibt mit Blick auf den Innovationsbedarf und das Lernen aus Krisenerfahrungen ein Geheimnis, warum telefonische Krankschreibungen bisher nicht aktiver als Chance zur Vermeidung unnötiger Arztkontakte verstanden wurden und die Erkenntnisse aus dieser realen Pilotphase nicht von den Richtlinien-Gebern im Gemeinsamen Bundesausschuss kurzfristig evaluiert werden. Es bleibt zu hoffen, dass dies in diesem und vielen anderen Testfeldern noch erfolgt und die öffentlichen Forderungen dazu, wie etwa von ärztlichen Berufsverbänden und auch Krankenkassen wie der DAK, nicht überhört werden.
Bei den vielen Sonderregelungen wäre es dringend ratsam, aus der Perspektive der Versorgungsforschung genauer hinzuschauen und die Erfahrungen systematisch zu bewerten, um die gewonnenen Erkenntnisse auch in die normale Regelversorgung zu übertragen. Dazu sollte im Innovationsfonds ein konkretes Themenfeld geschaffen werden. Zusammenfassend könnten diese sechs Thesen zum Innovationsbedarf aus der Corona-Lage abgeleitet werden:
1.In der Pandemie zeigt sich eine hohe Stabilität im deutschen Gesundheitswesen. Aber auch zu viel Bürokratie, die vermutlich nicht nur in Krisenzeiten reduziert werden könnte.
2. Digitale Gesundheitsangebote waren noch nicht ausreichend und transparent genug vorhanden. Der erhöhte Schub für digitale Beratungs- und Therapiemöglichkeiten sollte nun unbedingt genutzt werden.
3. Gute Gesundheit ist mehr als ein gutes Gesundheitswesen. Der Nutzen guter Prävention, Vorsorge, von Impfschutz und Infektionsschutz ist hoch. Vorsorgeuntersuchungen sollten in ein integriertes System mit digitaler Unterstützung und aktiver Impfberatung zusammengefasst werden.
4. Für Alters- und Pflegeheime ist eine neue Leitlinie nötig, wie gute und aktivierende Pflege mit wirksamem Infektionsschutz umgesetzt werden kann.
5. Die Finanzierung von Vorhaltekosten und Notfallkapazitäten mit schwankender Auslastung ist reformbedürftig. Die geplante Reform der Notfallversorgung sollte mit den praktischen Erfahrungen aus der Corona-Krise umgesetzt werden.
6. Während in der konkreten Krisensituation kurzfristige Stabilisierungsmaßnahmen im Fokus standen, müssen nun umfassende Investitionen in Innovationen ermöglicht werden, die mittelfristig Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen verbessern.
Nach der Corona-Lage wird das Homeoffice aus dem Arbeitsalltag vieler Unternehmen und Beschäftigten sicher nicht mehr verschwinden. Ebenso sollten auch Bürokratie-Reduzierungen und digitale Fortschritte aus dieser besonderen Zeit im deutschen Gesundheitswesen nicht mehr zurückgedreht werden.
Ein zentraler Schwerpunkt des Innovationsfond, der mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) gerade bis 2024 mit abgesenkter Fördersumme von 300 auf 200 Millionen Euro verlängert wurde, liegt zukünftig in der Nutzung digitaler Innovationschancen. Dabei wurde versucht, ab 2020 einen Mangel der Entstehungsgeschichte des Innovationsfonds zu beseitigen und konkrete Regelungen für die Überführung erfolgreicher Projekte in die Regelversorgung zu definieren. Dazu soll ein festes Verfahren zur Überführung etabliert werden und der Innovationsausschuss beim Gemeinsamen Bundesausschuss als zentrale Stelle in der Struktur des Innovationsfonds erhält damit eine weitere Aufgabe.
Der Innovationsausschuss, in dem neben den Trägern der gemeinsamen Selbstverwaltung auch zwei Bundesministerien einen Sitz haben, legt bisher – unter Einbeziehung externer Expertise – in Förderbekanntmachungen die Kriterien zur Vergabe aus dem Innovationsfonds fest und entscheidet über die eingegangenen Anträge. Zusätzlich beschließt der Innovationsausschuss neu ab 2020 nach Abschluss der Projekte aus dem Bereich neuer Versorgungsformen auch zwingend Empfehlungen zum Transfer in die Regelversorgung und optional auch bei Projekten der Versorgungsforschung. So muss zukünftig innerhalb von drei Monaten nach Vorlage der Projekt-Abschlussberichte eine Empfehlung formuliert und veröffentlicht werden, ob und insbesondere auch wie erfolgreiche Projekt-Erkenntnisse in die Regelversorgung übertragen werden sollen.
Besonders spannend dürfte dabei werden, welche Akteure der Innovationsausschuss jeweils als zuständig für die Umsetzung erklärt und wie diese Akteure damit umgehen werden. Bisher gibt es dazu kaum Routinen. Zwar gibt es erfolgreiche Projekte, wie etwa PIKKO als Lotsen-Programm in der Onkologie im Saarland, die nach dem Förderende weiterlaufen. Dies erfolgt jedoch bisher über Selektivverträge Dabei ist dies auch weiterhin als wichtige Möglichkeit trotz der neuen Empfehlungskompetenz des Innovationsausschusses denkbar. Denn die Fortführung von Innovationsprojekten in Selektivverträgen durch willige Vertragspartner mit allgemeiner Beitrittsmöglichkeit für weitere Vertragspartner könnte gegebenenfalls wirksamer als eine schlecht gemachte Zwangslösung sein.
Zumindest formal einfach könnte es sein, wenn für den Transfer in die Regelversorgung der Gemeinsame Bundesausschuss selbst als zuständig benannt wird – etwa bezüglich neuer Richtlinien. Dann muss der G-BA die Empfehlung des Innovationsausschusses innerhalb von zwölf Monaten angehen. Bei anderen Akteuren, wie etwa den Partnern der Gesamtvergütung im Kollektivrahmen auf Bundes- und Landesebene, dürfte der Transfer ohne klare Regeln nicht so einfach werden. Spannend könnte es auch werden, wenn die Umsetzung nur durch eine Gesetzesänderung möglich wäre und daher Empfehlungen vom Innovationsausschuss an den Gesetzgeber erfolgen.
Die Relevanz dafür, dass nun klarere Regeln zum Transfer guter Projektergebnisse in die Regelversorgung nötig sind, zeigt die Zahl von Abschlussberichten aus dem Innovationsfonds, die ab 2020 und insbesondere 2021 stark ansteigen werden. Nach aktuellem Stand sind 380 Projekte in der Förderung, die in den kommenden Jahren auslaufen werden. Ohne den konkreten Willen der Akteure bestünde die Gefahr, dass aus den Erkenntnissen kaum etwas in der konkreten Gesundheitsversorgung für alle ankommt und „tolle Ideen am langen Arm verhungern“, wie es Prof. Heinz Lohmann in einer Kolumne zu Chancen Sozialer Gesundheitswirtschaft formuliert hat. Umso wichtiger ist es nun, diesen Schatz an Erkenntnissen für die Regelversorgung und damit für die Gesundheitsversorgung für alle Patientinnen und Patienten zugänglich zu machen. Gleichzeitig dürfte dies auch eine Bewährungsprobe für die gemeinsame Selbstverwaltung gegenüber der Politik sein. Denn ein verbessertes Innovationsklima ist auch ein erklärtes Ziel der Bundesregierung und zu lange Entscheidungswege dürften nicht mehr akzeptiert werden.
Roland Engehausen ist seit Dezember 2020 Geschäftsführer der Bayerischen Krankenhausgesellschaft (BKG) sowie der beiden Tochtergesellschaften Bayerische Pflegeausbildungsfonds GmbH (PAF) und Bayerisches Institut für Krankenhaus-Organisation und -Betriebsführung GmbH (BIK). Zuvor war Engehausen sechs Jahre lang Vorstandsvorsitzender der IKK Südwest. Der vorliegende Artikel ist eine gekürzte Version eines Beitrags im Herausgeberband „Innovationsfonds – Transfer in die Regelversorgung: Zwischenbilanz, Best Practice-Beispiele & Handlungsempfehlungen, der im medhochzwei Verlag erscheint. Der Kasten zum Innovationsfonds stammt ebenso aus dem Herausgeberband.
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