Wenn alle führen

Führung ohne Hierarchie soll das Engagement und die Kreativität von Mitarbeitern fördern. Die Berliner Kondomhersteller Einhorn arbeiten bereits seit Jahren nach dem Prinzip der sogenannten Holakratie. Was die Vorreiter mit Teamstrukturen ohne Chefs erlebt haben.

Von Jennifer Garic

Wer im Organigramm oben steht, hat es geschafft und ist der Chef. Darunter kommen in verschiedenen Stufen die übrigen Mitarbeiter mit ihren jeweiligen Abteilungsleitern. Die Pyramide zeigt schwarz auf weiß, wer im Unternehmen das Sagen hat. Normalerweise. Anders beim Unternehmen Einhorn. Hier würde ein Organigramm – wenn es eines gäbe – eher wie ein großer Kreis aussehen: Niemand sticht heraus. Die Gründer Philip Siefer und Waldemar Zeiler sehen auch sich selbst als Teil des Kreises, wenngleich sie als letztlich Verantwortliche für das Unternehmen gewissermaßen über allem schweben. Offiziell aber entscheiden nicht zwei, sondern stets alle 20 Mitarbeiter des Start-ups gemeinsam. Wenn ein neues Projekt ansteht, geht es daher auch immer um die Frage: Wer ist diesmal der Leader?

Bei den Berlinern gibt es keine festen Rollen, abgesehen von einem Gehaltsrat, den die Mitarbeiter jedes Jahr neu wählen. „Wir wollen nicht, dass hier jemand die Führung innehat, nur weil das irgendein Organigramm so festlegt“, sagt Markus Wörner. Er ist seit drei Jahren Teil des Start-ups und gewähltes Gehaltsratsmitglied. Auch für Wörner war die Organisation ganz ohne Hierarchie etwas Neues.

Was die Berliner betreiben, lässt sich auch als Holakratie beschreiben. Der Begriff ist vom griechischen „Holon“ abgeleitet und bedeutet „Teil eines Ganzen zu sein“. Bei dieser neuen Unternehmensform gibt es statt strenger Hierarchien verschiedene Arbeitskreise, in denen sich Mitarbeiter abstimmen. Die alltäglichen Entscheidungen treffen sie selbst. Statt wenigen Abteilungsleitern gibt es viele Experten oder auch Leader, die einzelne Aufgaben oder Projekte übernehmen. Für Martin Högl ist das die beste Form der Teamführung. Er ist Professor an der Universität in München mit dem Fachgebiet „Leadership and Organization“ und erklärt seinen Studenten in Vorlesungen und Seminaren, worauf es bei der Führung ankommt: „Entscheidend ist, warum ich Macht innehabe“, sagt Högl: „Bin ich Teamleiter, weil es so auf meiner Visitenkarte steht oder weil ich mich in einem Thema am besten auskenne?“

Wer fachlich überzeugen kann, strahlt gewissenmaßen natürliche Autorität und damit auch Führungskraft aus. Wenn das letzte Argument hingegen lautet „Ich bin hier der Chef“, dann kommt das weder bei Kollegen gut an noch beweist es irgendeine Stärke. Das bestätigt auch eine 2014 veröffentlichte Studie des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS). Mitarbeiter bevorzugen demnach die Organisation in Teams, nicht in pyramidalen Strukturen. Das hat auch Vorteile für die Führungskräfte. Laut Studie erhoffen sich Chefs und Abteilungsleiter, dass Arbeit in Gruppen die Kreativität aufseiten der Mitarbeiter fördern kann. Das soll zu höherer Innovationskraft führen, Prozesse beschleunigen und interne Bürokratie abbauen, schreiben die Studienleiter. Das Gegenteil von guter Führung ist laut der Umfrage des BMAS hierarchisches Management. Auch Leadership-Professor Högl sieht diese Form als die Schwächste an: „Die stärkste Basis der Macht ist es, wenn ein Mitarbeiter dem anderen die Führung überlässt, weil er ihn für kompetenter hält“, erklärt der Uniprofessor.

So läuft das auch bei Einhorn. Steht ein neues Projekt an, diskutieren die Mitarbeiter des Herstellers von veganen und nachhaltigen Kondomen gemeinsam, wie sie sich am besten organisieren. Wer Engagement zeigt, ist Teamleiter – mangelnde thematische Expertise ist kein K.-o.-Kriterium. „Wenn jemand etwas unbedingt erreichen will, dann schafft er das auch“, lautet die Philosophie des Start-ups.

Team


Eine solche Führungsidee, die über Vorbild und Ermutigung zu Neuem funktioniert, nennen Wissenschaftler auch „Transformationale Führung“. Bei diesem Führungsstil gibt der Teamleiter ein klares Ziel vor, die anderen im Team arbeiten aber weiterhin selbstbestimmt an der Erfüllung. In einer Studie für den Managementberater Kienbaum und das Jobportal Stepstone haben Wissenschaftler festgestellt: Die Arbeitszufriedenheit ist bei transformationaler Führung am höchsten, Kündigungsabsichten sind sehr selten. Schafft es der Teamleiter, andere Mitarbeiter für ein Projekt zu motivieren, dann sehen diese auch einen Sinn in ihrer Arbeit und sind zufriedener, fassen die Studienleiter knapp zusammen. Problematisch wird es demnach, wenn ein Job niemanden begeistert. „Wenn keiner mitmachen oder ein Projekt leiten will, dann müssen wir uns fragen: Warum? Denn dann läuft irgendetwas schief oder das Projekt passt nicht zu uns“, sagt Wörner. Die Kondomhersteller haben aus diesem Grund schon mehrfach bei einzelnen Projekten die Reißleine gezogen und diese gestoppt.


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Wenn es bei einem laufenden Projekt Probleme gibt, sprechen die Berliner das in großer Runde an. „Ohne ehrliche Ansagen funktioniert unser System nicht“, sagt Gehaltsrat Wörner. „Wenn ich mich zum Beispiel im Stich gelassen fühle, muss ich sagen: ‚Leute, ich hab das ganz allein gemacht. Das ist nicht cool.‘ “ Zu den großen Gesprächsrunden laden sich die Start-up-Mitarbeiter seit fast drei Jahren einen externen Coach ein. Dieser leitet die Runden und hilft, Probleme zu diskutieren. Zweimal im Jahr nehmen sich alle Mitarbeiter eine Auszeit, fahren für ein paar Tage raus in die Natur, mieten sich zum Beispiel eine große Hütte. „Da reden wir dann mal in Ruhe über alles – egal ob positiv oder negativ“, erklärt Wörner.

Die offene Art ist nicht für jeden etwas. Auch Wörner musste sich erst daran gewöhnen: „Wenn man aus klassischen Unternehmen kommt, ist man so eine offene Feedbackkultur nicht gewöhnt.“ Ohne die geht es aber nicht, erklärt der Münchner Professor Högl: „In einer Holakratie gibt es nicht die Gruppe der Führer und die der Geführten. Die Rollen wechseln ständig.“ Damit das gut funktioniert, müssen die Mitarbeiter sich austauschen: „Führen ist ein ständiger Prozess der gegenseitigen Beeinflussung“, sagt Högl. Das ist einer der Tipps, den er seinen Studenten mit auf den Weg gibt. Denn der Uni-Professor ist überzeugt: Wer weiß, wie Führung funktioniert, kann selbst ein besserer Leader sein und schneller erkennen, wenn etwas schiefläuft.

Start-ups sind in seinen Augen besonders anfällig für Führungsprobleme – und zwar, wenn sie rasant wachsen. Am Anfang sind da meist nur Gründer, die Tag und Nacht an ihrem Traum tüfteln. Mit der Zeit kommen immer mehr Mitarbeiter dazu, oft sind sie gleichberechtigt an Entscheidungen beteiligt. Für richtige Abteilungen ist das Unternehmen jetzt noch zu klein. Je größer das Start-up dann wird, desto schneller droht irgendwann eine Koordinationskrise: „Irgendwann ist ein Unternehmen so groß, dass man gar nicht mehr weiß, wer eigentlich was macht“, sagt Högl. „Dann wird es schwer, das komplett hierarchielose Konstrukt aufrechtzuerhalten.“ Eine Personalabteilung kann in solchen Situationen auch nur wenig richten, sagt der Uni-Professor. „Wenn in einem Unternehmen schlecht geführt wird, dann sind primär die Führenden schuld – nicht die Personalabteilung.“ Personaler können Leader aber mit Weiterbildungsprogrammen unterstützen und bei der Einstellung neuer Mitarbeiter darauf achten, dass sie ins Team passen und die richtigen Eigenschaften mitbringen.

Bei Einhorn gibt es gar keine Personalabteilung. Stattdessen achten die Gründer und der Rest des Teams selbst darauf, dass alles passt und der Einstieg ins Start-up gut gelingt: „Lange war das Onboarding keine Stärke von uns“, gibt Wörner zu: „Wer neu bei Einhorn ist, muss nicht nur die Kollegen kennenlernen, sondern auch unseren offenen Umgang mit Feedback und die große Entscheidungsmacht verstehen, akzeptieren und nutzen.“ Am Anfang seiner Zeit bei Einhorn hat Wörner aus Gewohnheit beispielsweise noch häufiger Entscheidungen an einen der Gründer weitergegeben. Die haben ihn dann an das Prinzip der Holakratie erinnert: „Das kannst du doch selbst entscheiden.“